Eichenberg, Christiane & Auersperg, Felicitas: Chancen und Risiken digitaler Medien für Kinder und Jugendliche. Ein Ratgeber für Eltern, Lehrkräfte und andere Bezugspersonen
Wie alle Medien (und deren rasante Weiterentwicklung) bieten auch die digitalen Medien in ihren vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten Chancen und Risiken, die miteinander in Verbindung gesetzt sowie gesehen werden müssen und fachlich sorgsam betrachtet werden sollten. Auf der einen Seite benötigen Kinder und Jugendliche eine Medienkompetenz, die sie in ihre Freizeitgestaltung, Lebens- und späteren Schul-/Berufszeit als eine sinnvolle Bereicherung integrieren können. Auf der anderen Seite gilt es aber auch, einen entwicklungshinderlichen und devianten (=sozial/ gesellschaftlich inakzeptable) Gebrauch digitaler Medien zur Kenntnis zu nehmen und Möglichkeiten zu nutzen, eine selbstschädigende, asoziale bzw. exzessive Nutzung zu verhindern bzw. entwicklungsförderlich zu korrigieren.
So ist es sehr zu begrüßen, dass sich die beiden Autorinnen – Prof. Dr. Christiane Eichenberg, Leiterin des Instituts für Psychosomatik an der Medizinischen Fakultät der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien und Dr. Felicitas Auersperg, Universitätsassistentin an der zuvor genannten PrivatUniversität – dem Themenfeld der digitalen Medien zugewandt haben und ihre Erstveröffentlichung im Jahre 2018 nun in einer 2. überarbeiteten Auflage vorlegen.
Zum Aufbau des Buches
Die Veröffentlichung umfasst 4 Kapitel. Im ersten Kapitel (>Bedeutung digitaler Medien in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen<) wenden sich die beiden Autorinnen dem Nutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen, den zur Verfügung stehenden Medien, den Nutzungsgewohnheiten und der Medienkompetenz von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu.
Das zweite Kapitel (>Chancen digitaler Medien für Kinder und Jugendliche<) geht konkret auf die Identitätsentwicklung (z.B. Selfies), Soziale Kompetenzen und Beziehungen, Lernen (z.B. wissensbezogene Inhalte, Kindergarten bis zu weiterführenden Schulen), Spielen (z.B. Gewalt am Bildschirm, serious Gaming, Kreativität), Informationsaustausch und Meinungsbildung (z.B. Internet und der Abbau von Vorurteilen), Psychosoziale Hilfestellung bei typischen Problemen im Jugendalter (z.B. Selbsthilfeforen, Sexualität und Aufklärung im Internet) ein.
Im dritten Kapitel (>Risiken digitaler Medien für Kinder und Jugendliche<) finden sich Ausführungen zu den fünf Risikobereichen: a) Exzessive Nutzungsweisen – Internetsüchte-; b) Dysfunktionale Nutzungsweisen: Informationsüberflutung sowie Cyberchondrie & Co; c) Selbstschädigende Nutzungsweisen: Suizid-Foren, Ritzer-Seiten und Pro-Ana-Bewegung; d) Deviante Nutzungsweisen: Cybermobbing, Cybertalking und sexuelle Gewalt sowie e) Jugendgefährdende Inhalte: Politischer Extremismus. Anschließend folgen die Schwerpunkte Interventionsmöglichkeiten bei Online-Sucht und Cybermobbing, therapeutische Aspekte im Umgang mit Online-Sucht und präventive Maßnahmen.
Kapitel 4 stellt sich der Herausforderung, >Medienkompetenz sinnvoll zu vermitteln<. Dabei dreht sich zunächst alles um die Medienkompetenz in der Familie, um Strategien zur Vermittlung von Medienkompetenz bei Kindern, bei Jugendlichen und um die Mediennutzung sowie intergenerationale Konflikte in der Familie, um dann auf die Medienkompetenz in der Schule und Konzepte zur Vermittlung von Medienkompetenz bei Kindern und Jugendlichen einzugehen. Ein kurzes Fazit, eine sehr umfangreiche Literaturliste sowie 4 Checklisten (Merkmale der Online-Spielsucht; Liste angenehmer Tätigkeiten; Medienvertrag – Regeln zu Internet, Fernseher & Co; Mein Medientagebuch) schließen diese Veröffentlichung ab.
Zum Inhalt des Buches
Als Ausgangspunkt kann folgende Aussage gelten: während Kinder als sogenannte >digital natives< aufwachsen, haben viele Erwachsene erst die Aufgabe gehabt, sich in die digitale Welt nach und nach einzuarbeiten. Dieser Unterschied ist eine dringend zu lösende Herausforderung, um zunächst selbst eine Medienkompetenz zu erlangen. Immer mehr Kinder und Jugendliche nutzen mit zunehmendem lt. JIM-Studie und KIM-Studie Smartphones, Laptops, Spielekonsolen, Tablets und nutzen bevorzugte Streamingdienste. Jugendliche greifen dabei zu Hause häufig auf Netflix, Amazon Prime Video oder Disney+, auf Musikstreamingdienste wie Spotify, Apple Music oder You-Tube Musik zu und auch die Zahl an eigenen Wearables wie z.B. Smartwatches steigt stetig an und Social-Media-Plattformen wie Instagram, TikTok & Co erfreuen sich einer breiten Beliebtheit. Hier ist eine Medienkompetenz gefragt, bei der die Kinder und Jugendlichen – entsprechend ihrem Alter – lt. dem deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSF) selbstbestimmt, kritisch, kreativ und verantwortungsbewusst handeln sollen, wobei sie selbst die Fähigkeit besitzen sollen, ihren Konsum zu reflektieren und zu bewerten, um auch die Konsequenzen ihres Konsums einzuschätzen. Hieraus geben sich deutliche Aufgaben, die Eltern, Erzieher*innen, Lehrkräfte und andere Bezugspersonen sehen, aufgreifen und umsetzen müssen!
Die beiden Autorinnen schaffen es in ausgezeichneter Weise bei ihren inhaltlichen Ausführungen, die stets mit reichhaltigen, sogenannten >Fallbeispielen< angereichert sind, Chancen, Auswirkungen und Risiken (z.B. bei Computerspielen, der Handy-/ Computer-/ TV-/ Selfie-/ KI-nutzung, dem Online-Gaming) gegenüberzustellen und entsprechende Altersempfehlungen vorzunehmen. Leser*innen erfahren immer wieder aktuelle Untersuchungsdaten und mit Zahlen belegte Aussagen, worin einerseits die Chancen für Kinder und Jugendliche liegen, digitale Medien in ihre Lebens- und auch Lernwelt zu integrieren, andererseits werden aber auch die Risiken wie eine Zunahme an Internetsüchten wie beispielsweise Online-Spielsucht oder die exzessive Nutzung von Chatforen und sozialen Netzwerken, Online-Kaufsucht ebenso thematisiert wie Cybermobbing, Cyberstalking und direkte sexuelle Übergriffe in Chatrooms oder Sexting (Austausch sexueller Nachrichten/ Weiterleiten von Fotos) bzw. Online-Challenges, in denen es um grenzüberschreitende ‚Mutproben‘ geht.
Dabei wird auch die Erstellung und Verbreitung von Pornografie über das Netz thematisiert. Doch hier bleiben die beiden Autor*innen inhaltlich nicht stehen! So umreißen sie kurz und bündig vor allem bei der Problemstellung der Online-Sucht und des Cybermobbings einige therapeutische Behandlungsoptionen und Interventionsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Notwendigkeit, die Bezugspersonen miteinzubeziehen, um keine isolierte Veränderung bei Kindern und Jugendlichen zu versuchen, sondern im Sinne eines systemischen Ansatzes ganzheitlich vorzugehen. Gleichzeitig werden auch präventive Maßnahmen erwähnt wie >Surf-Fair< (Pieschl & Porch) sowie >KiVa< (Salmivalli) und es werden Vorschläge unterbreitet, wie Medienkompetenz sinnvoll vermittelt werden kann: in der Familie, bei Kindern und bei Jugendlichen, in der Schule.
Ein Wermutstropfen ist allerdings bei aller positiven Beurteilung des Buches vorhanden: die beiden Wissenschaftlerinnen haben dem Einsatz/ der Nutzung von digitalen Medien im frühesten Kindesalter (z.B. im Krippenalter/ in der Krippenpädagogik) keinen Raum in ihrem Buch zur Verfügung gestellt, obgleich es viele Lern-, Spiel- und Unterhaltungsapps für Kinder vom 1. bis zum 3. Lebensjahr gibt, deren Bedeutungssinn aus entwicklungspsychologischer und neurobiologischer Sicht besonders hinterfragt werden muss. Als Ergänzung zum Buch sei an dieser Stelle auf folgende 3 Internetseiten hingewiesen: >Empfehlungen zu Bildschirmmedien bei der U3, Download als PDF, Zeitschrift Kinder- und Jugendarzt: https://die-pädagogische-wende.de/empfehlungen-zu-bildschirmmedien-bei-der-u3/, kindergesundheit-info.de ( Tipps zum Umgang mit Medien für Babys und Kleinkinder): https://www.kindergesundheit-info.de/themen/medien/alltagstipps/medienwahrnehmung/medienumgang-0-3-jahre/, Schau hin – Medien und Kleinkinder: https://www.schau-hin.info/medien-kleinkinder; Kindergesundheit-info.de – Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Wie Medien Kindern schaden können): https://www.kindergesundheit-info.de/themen/medien/mediennutzung/medien-gefahren/
Fazit:
Diese Veröffentlichung erfasst in fundierter Weise die Chancen und Risiken der Nutzung digitaler Medien. Die vielen Beispiele erhellen in anschaulicher Weise die theoretischen Ausführungen und machen es Leser*innen leicht, sich mit den Fakten auseinanderzusetzen, die immer wieder durch wissenschaftliche Belege dokumentiert werden. Alleine die 20 Seiten, auf denen die Literaturbelege, die in den Texten genannt sind, aufgeführt werden, lassen einen fachlichen Rückschluss auf die Textaussagen erkennen. Somit kann diese Veröffentlichung als eine sehr hilfreiche Handreichung für Erzieher*innen, Lehrer*innen, Eltern und Betreuungs-/Bezugspersonen in bestem Sinne dienlich sein.
Schlussbemerkung:
(1) Im Umgang der Kinder mit digitalen Medien kommt zuvorderst der Vorbildwirkung der Erwachsenen eine besondere Bedeutung zu! Solange z.B. Erzieher*innen während ihrer Arbeitszeit ihr Smartphone oder Tablet für private Anliegen nutzen, was bei Kitabesuchen nicht die Ausnahme darstellt, wird Kindern etwas vorgelebt, das Kinder gerne imitieren wollen. Zudem wird Kindern eine Zuwendungszeit vorenthalten, die aus arbeitsrechtlicher und berufspädagogischer Sicht nicht akzeptabel ist. Auch wenn Eltern beim Holen und Bringen der Kinder mit ihrem Smartphone kommunizieren, bei gemeinsamen Unternehmungen statt mit ihren Kindern sprechen und stattdessen ihren Smartphoneunterhaltungen Aufmerksamkeit schenken, wird das Kind einen zweitrangigen Wert erfahren. (2) Wer bei und mit Kindern eine >Medienkompetenz< aufbauen und nachhaltig erzielen möchte, muss selbst eine >Medienkompetenz< besitzen und die Chancen und Gefahren einer digitalen Mediennutzung gegeneinander abwägen können. (3) Kritiker*innen an einem zu frühen digitalen Medieneinsatz in der Pädagogik oder an einer zu intensiven digitalen Mediennutzung dürfen nicht als medienfeindlich bezeichnet werden – dieses häufig zu erlebende und ausgesprochene Vorurteil entspricht einer destruktiven Haltung in einer sachlich zu führenden Diskussion. (4) Digitale Medien in der Elementarpädagogik haben ihren Sinn, wenn sie in handlungsaktiven und alltagsorientierten Projekten/ Themenschwerpunkten integriert werden. Hier heißt es: vom kindorientierten und alltagsbezogenen Thema zum digitalen Medium und nicht vom digitalen Medium zum Kind! Genau das geschieht aber in vielen elementarpädagogischen Einrichtungen. (5) Bei der Bedeutungsbetrachtung digitaler Medien in der Frühpädagogik müssen entwicklungspsychologische Untersuchungsergebnisse und neurobiologische Erkenntnisse als ein fachlich fundierter Ausgangspunkt für den Einsatz digitaler Medien und keine wirtschaftlichen Interessen zur Grundlage dienen. (6) Eine vorhandene Medieninkompetenz, eine Internetdistanzierung oder eine pauschale Ablehnung digitaler Medien ist weder akzeptabel noch zielführend, wenn es um eine sachliche Auseinandersetzung über digitale Medien(nutzung) gehen soll.
Armin Krenz – Hon.-Professor für Elementarpädagogik & Entwicklungspsychologie (a.D.)
Eichenberg, Christiane & Auersperg, Felicitas
Chancen und Risiken digitaler Medien für Kinder und Jugendliche
Ein Ratgeber für Eltern, Lehrkräfte und andere Bezugspersonen
Hogrefe Verlag GmbH & Co KG
2. überarbeitete Auflage 2024
190 Seiten
ISBN: 978-3-8017-3209-7
19,95 €