Mit Bedeutung sollte man nicht herumspielen
Trine Piils Verfilmung des Bestsellers „Nichts – Was im Leben wichtig ist“ von Janne Heller
Wer nach Glück im Leben strebt, begibt sich meist auch auf Sinnsuche. In unserer säkularisierten Gesellschaft ist das ein äußerst kompliziertes Unterfangen. So mancher gibt die Suche auf und begnügt sich mit den Glasperlen des Daseins.
Aber Jugend ist radikal. Sie verlangt nach ehrlichen Antworten, die auch einer harten Überprüfung standhalten. 2010 hat die dänische Autorin Janne Heller mit „Nichts – Was im Leben wichtig ist“ dazu einen spannenden Roman publiziert. In der Wochenzeitung DIE ZEIT lautete damals das begeisterte Fazit „Ein brutales, ein mutiges Buch – ein literarischer Glücksfall zur rechten Zeit! Ein Tabubruch mit Tiefgang und Zukunft.“
Der erste Satz des Werks in der deutschen Übersetzung von Sigrid Engeler lautet: „Pierre Anthon verließ an dem Tag die Schule, als er herausfand, dass nichts etwas bedeutete und es sich deshalb nicht lohne, irgendetwas zu tun.“ So beginnt nun auch Trine Piils Verfilmung des Bestsellers, der mittlerweile in der 17. Auflage angekommen ist.
Für Pierre Anthon und seine Klassenkameraden hat das Schuljahr eben begonnen. Nachdem er allen seine Erkenntnis der Sinnlosigkeit mitgeteilt hat, packt er seine Sachen, verlässt die Schule und setzt sich auf einen Pflaumenbaum, von dem er nicht mehr herunterkommen will. Dies löst bei seinen Klassenkameraden eine existenzielle Krise aus. Sie beschließen, ihre wertvollsten Besitztümer zu sammeln, um Pierre Anthon davon zu überzeugen, dass er sich irrt. Was mit unschuldigen Opfergaben beginnt, entwickelt sich bald zu einer Spirale psychologischer Gewalt: Je schmerzhafter das Opfer ist, desto mehr bedeutet es und desto mehr wird vom nächsten in der Reihe verlangt.
Piils Film hat etwas Verstörendes, aber auch viel Widersprüchliches. Der Film soll wie im Buch in Tæring, einem Vorort einer mittelgroßen Provinzstadt spielen. Hier kennt jeder jeden und es geschehen Dinge, die eigentlich größere Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorrufen müssten: Die Schulfahne verschwindet, ein Kind wird samt Sarg exhumiert und die überlebensgroße Jesusfigur aus der Kirche verschwindet. Dass dies weder Medien nicht Polizei auf den Plan ruft, bleibt das Geheimnis der Filmschaffenden. Das ist dann auch die einzige Schwäche des Films – vielleicht ist sie es aber auch nicht. Schließlich fragt sich der Zuschauer während der 86 Minuten immer wieder, warum den niemand der Erwachsenen wirklich reagiert.
Richtig: Genau das ist die Frage, die wir uns jeden Tag mit Blick auf die Realität vieler Jugendlicher und ihrer Umgebung stellen müssten. Da sind die Eltern, denen ihre Kinder fremd werden oder die sie niemals kennengelernt haben. Pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte, denen es ebenso geht, die trotz ihres Genies halt immer die falschen Schülerinnen und Schüler haben. Für Sinnsuche bleibt keine Zeit. Etwas Heuchelei und ein paar abgegriffene Lebensweisheiten müssen ausreichen. Das Krönchen setzt der Herr Wachtmeister dem Ganzen dann beim Verkehrsunterricht in der dritten Klasse auf: wenn er den Kindern die Verkehrsregeln eintrichtert, um später lethargisch an der Straßenecke mit seinen Kollegen zu plaudern, um niemals mehr auf deren Einhaltung der Verkehrsregeln zu achten.
Am Ende schieben alle ihr Versagen auf Überforderung, statt die eigene Haltung zu hinterfragen. Aber eine Gesellschaft, die ihre eigenen Regeln nicht ernst nimmt, keinen Rahmen bietet, in dem eine ernsthafte Sinnsuche stattfindet, ihre Missachtung gegenüber Kindern und Jugendlichen mit desaströsen Schulen in einem maroden Bildungssystem ausdrückt und stattdessen Heuchelei und als einzigen glaubwürdigen Wert den Materialismus vorlebt, muss sich nicht über die radikale Pubertät ihrer Kinder wundern.
Hellers Buch zeigt ebenso wie Piils Film die Zerreißprobe, in der die Jugendlichen stehen. „Unter allen Umständen war am wichtigsten, dass aus einem etwas wurde, das nach etwas aussah“, erklärt die Schülerin Agnes im Buch. Nun verkündet aber Pierre Anthon von seinem Pflaumenbaum herunter: „In wenigen Jahren seid ihr alle tot und vergessen und nichts, also könnt ihr genauso gut sofort damit anfangen, euch darin (im Nichtstun Anm. d. Red.) zu üben.“
So ungeheuer die Forderungen, der Jugendlichen sind, die diese aneinanderstellen, so groß scheint auch ihre Solidarität zueinander. Sie helfen sich gegenseitig, sind füreinander da und sorgen sich. Schließlich verbindet sie vor allem eines: die Angst davor, dass Pierre Anthon recht haben könnte. Das treibt sie letztlich dazu, immer größere Opfer zu bringen. Dass dieses archaische, urmenschliche Verhalten am Ende keine Früchte trägt, verwundert niemanden.
Piils Film trägt die Altersfreigabe ab 16 Jahren. Das ist gut so. Schließlich enthält der Film so viel Verstörendes, aber auch Aufrüttelndes, dass doch etwas Reife und Lebenserfahrung gefordert sind. Und eigentlich hat der Film auch den Erwachsenen am meisten zu sagen. Schließlich ist er auch eine beißende Gesellschaftskritik, die unter Wertearmut leidet und keine Antworten auf die drängenden Fragen findet. Mittlerweile gibt es auch Schulmaterialien zum freien Download. Wir empfehlen, sich den Film und die Materialien vorher anzusehen und zu sich gemeinsam mit den Eltern ehrlich zu hinterfragen, ob auch genügend Bereitschaft und Zeit vorhanden ist, um sich offen und intensiv mit diesem äußerst wichtigen Thema auseinanderzusetzen. Denn, um es mit den Worten von Agnes zu sagen: „Mit Bedeutung sollte man nicht herumspielen“.
Gernot Körner
Wir verlosen 3 DVDs
Nichts
Was im Leben wichtig ist
Veröffentlichung: 25.05.2023
Originaltitel: Intet
Dänemark, Deutschland 2022 | ca. 86 Min. | ab 16
Regie: Trine Piil
Cast: Vivelill Søgaard Holm, Harald Kaiser Hermann, Peter Gantzler
Das Gewinnpiel ist beendet
Stichwort: Nichts