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Die Kunst des Erziehens achtet das rhythmische Prinzip

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Rhythmus als Antwort auf Intellektualisierung und in Fächer zergliedertes Lernen nach Rudolf Steiner

Das Fundament der modernen Geisteswissenschaft ist die selbst zu verantwortende „Freiheit des Menschen“. Das gilt auch für Rudolf Steiners Ideen. Seiner Menschenkunde zufolge fühlt sich der freie Mensch aus seinem ursprünglichen Wesen heraus aufgerufen, das Gute zu suchen und für den anderen Menschen zu tun. Woher kommt aber das Gute? Entspringt es aus der Bindungs- und Beziehungsfähigkeit der Menschen untereinander? Oder findet der Mensch das Gute, indem er sich entschließt, es zu tun – soweit seine Fähigkeit reicht und seine Bereitschaft wächst, aus eigenen Fehlern zu lernen? In diesen selbstkritischen Fragen gründet die Kunst der Erzieherin (Glöckler 2002). Das hatte Steiner beim Hausunterricht erfahren.

Rhythmus in Geschichte und Gegenwart

Dem griechischen Philosophen Heraklit (um 500 v. Chr.) zufolge existiert in der Natur ein Grundprinzip des Lebens und der Welt: Alles fließt! (griechisch: panta rhei). Aus dem Fließen oder dem Rhythmischen entsteht die Urkraft des Lebendigen, die „Energie an sich“ (Heraklit). Auf dieser rhythmischen Urkraft beruhe die Existenz des Kosmos.

Das rhythmische Phänomen begegnet uns überall in der Natur und im Leben. Für den Menschen ist der Rhythmus lebensbedeutsam. Ohne Rhythmus ist das Leben nicht denkbar. Zwischen Rhythmen und Gewohnheiten besteht ein enger Wechselbezug: Rhythmen tragen Gewohnheiten und Gewohnheiten stabilisieren Rhythmen. Die Psychologie der frühen Kindheit weist eindringlich darauf hin, dass jedes Kind von Beginn an einen rhythmisch strukturierten Tagesablauf und damit stabile Gewohnheiten für seine Entwicklung benötigt. Und ein Kind, das von einer Entwicklungsauffälligkeit bedroht ist, verlangt besondere Aufmerksamkeit, denn es braucht ganz besonders stabile Gewohnheiten, die ihm Lebenssicherheit, Zuversicht und Vertrauen geben. Wenn ein Kind im Vorhinein weiß oder auch nur ahnt, was bald folgen wird, fühlt es sich sicher und kann sich in zeitlichen Strukturen frei bewegen (Neuhäuser/Klein 2019, S. 126 ff.).


Wir haben diesen Beitrag folgendem Buch entnommen:

Prof. Dr. Ferdinand Klein
Waldorfpädagogik in Krippe und Kita
Einblick in eine ganzheitliche Praxis, die jedem Kind seinen individuellen Lebensweg ermöglicht
Taschenbuch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-96304-610-0
25 €

Mehr dazu unter: https://www.oberstebrink.de/shop/item/9783963046100/waldorfpadagogik-in-krippe-und-kita-von-ferdinand-klein-broschur


Die Rhythmusforschung hat u.a. die physiologische Bedeutung des Tagesrhythmus, des Wochenrhythmus und des Jahresrhythmus für Kinder und Erwachsene herausgearbeitet: Alle Gewohnheiten, die sich bei einem Kind gebildet haben, stärken oder schwächen seine Lebenskraft. Wenn heute Kinder und Erzieherinnen über Kraftlosigkeit und Müdigkeit klagen, so ist eine Ursache dafür in den fehlenden Lebensgewohnheiten zu suchen. Gerade für kleine Kinder verlangt das Leben Rhythmus und Gewohnheit, Kontinuität und wiederholendes Üben.

Rhythmus als Antwort auf Intellektualisierung und zergliedertes Lernen

Rhythmische Erziehung ist als Antwort auf das einseitig intellektuelle und in Fächer zergliederte Lernen zu verstehen. Damit verbunden sind chronischer Bewegungsmangel und die zu beobachtende instabile Gesundheit bei vielen Kindern. So wird es auch verständlich, dass verschiedene Bewegungssysteme und Körpertherapien wie Pilze aus dem Boden schießen und bei Kindern mit Lern- und Entwicklungsdefiziten Hilfe durch ein bewegungserfülltes Lernen versprechen. Gerade dieses therapeutische Bemühen weist darauf hin, dass eine (Rück)Besinnung auf ein ganzheitliches Lernen geboten ist, das die Beziehungen von

– Körper (Körperbewegungen),
– Geist (geistige Strukturen) und
– Seele (künstlerische und bildnerische Bildungsinhalte)

beachtet (Klein 2012, S. 106 ff.).

Rhythmus als Schicksals- und Lebensrhythmus

Allgemeine Gesichtspunkte

Nach Rudolf Steiners Menschenkunde ist jeder Mensch in einen Schicksals- und Lebensrhythmus eingebunden. Er lebt im Rhythmus des Wachens und Schlafens, des Einatmens und Ausatmens, des Erlebens und Gestaltens, des Aufnehmens und Ausführens. Gerade beim Kind hat der klangvolle musikalische Rhythmus, den wir in Liedern und Bewegungen wahrnehmen, eine organbildende Kraft. Rhythmus und Bewegung sensibilisieren und aktivieren die Sinne, insbesondere den Bewegungs- und Gleichgewichtssinn und damit das Denken in seinem schöpferischen und ordnenden Anspruch.

Das Kind ahmt hier die Bewegungen auf seine ganz individuelle Art und Weise nach. Es strebt danach, in diesen Bewegungen die Welt zu verinnerlichen und bringt dadurch seine Welt in die gemeinsame Welt, in die „gemeinsame Daseinsgestaltung“ (Kobi 2004; Klein 2019, S. 18) ein. Offenbar erlebt sich das Kind ganz unmittelbar im Rhythmus und in den Bewegungen. Rhythmus und Bewegungen ermöglichen es ihm, sein Denken, Fühlen und Wollen und damit sein bewusstes Ich zu entwickeln. In diesem Prozess der Selbstausformung entfaltet und gestaltet es in Freiheit und Gebundenheit seinen inneren Halt, der in den übergreifenden Schicksals- und Lebensrhythmus eingebunden ist.

Zur heilenden Bewegungskunst (Eurythmie)

Rudolf Steiner hat die Eurythmie eingeführt. Im Bild der Waage zeigt sich das Wesen des Rhythmischen, wie es uns im Leben begegnet. Im Hin- und Herbewegen zwischen den Polen wird das Gleichgewicht gesucht. Im Rhythmischen trägt sich das Leben. Im Wesen des Rhythmischen begegnet uns das Wesen des Menschen. Das Sein im Rhythmischen ist ein Leben in Gesundheit. Im Rhythmischen, in dem sich das Gegensätzliche vereinigt, kommt das Ungleichgewicht ins Gleichgewicht. Ist der Mensch nicht (mehr) fähig, gleichsam aus der Herzmitte heraus, sich in dieses Gleichgewicht einzuschwingen, dann kann er körperlich und seelisch erkranken, Probleme für sich und für andere erzeugen.

Als geradezu tänzerische Ausdrucksform von Sprache und Musik will die Eurythmie den Menschen sinnlich-ästhetisch mit den Gestalten und Geschehnissen der geistigen Welt verbinden.

Im (Nach)Erleben der Bewegungen im Tanz können die TänzerInnen aus der sinnlichen Welt in die übersinnliche Welt aufsteigen. Durch nachbildende Bewegungen der Arme, Hände und Füße in choreografischen Formen wird ihnen ermöglicht nichtsinnliche Bewegungen sichtbar zu machen. Durch diese geistige (spirituelle) Kunst wird das sichtbar, was dem Makrokosmos innenwohnt.

Es ist daher Aufgabe des Lebens wie der Erziehung, das Rhythmische, das Streben nach Gleichgewicht, nach Ausgleich und Zusammensein, das Suchen des Verbindenden und Zusammengehörenden zu pflegen.

Es geht um einen harmonischen Rhythmus, was auch die Silbe eu vor dem griechischen Begriff des Rhythmischen ausdrücken will: Eu meint soviel wie harmonisch, schön, wohl, gut. In den eurythmischen Bewegungen spiegeln sich Bewegungen wider, wie sie uns im Kosmos und im menschlichen Organismus begegnen. Der Mensch als Mikrokosmos macht in seinen eurythmisch schöpferischen und künstlerischen Bewegungen den Makrokosmos sichtbar. Der makrokosmische Rhythmus des Jahres- und Tageslaufes mit seinen Naturkräften offenbart sich beim Menschen im Rhythmus des Kreislaufgeschehens, im Puls und Atem.

Es geht der Eurythmie darum, dem sich unwohl oder krank fühlenden Menschen zu ermöglichen, sich aus dem Arhythmischen und Hektischen in den Einklang mit den kosmischen Rhythmen hineinzubewegen, in das Harmonische, Ausgleichende und Ganze einzufinden. Diese harmonischen Bewegungen sind dem Menschen ureigen. Ist er aber aus dem inneren Gleichgewicht geraten, so hat er ein ursprüngliches Bedürfnis wieder in sein Gleichgewicht zu kommen. Nach anthroposophischem Verständnis hat jeder Mensch einen tiefen ursprünglichen Willen in sich, eurythmisch das innere und äußere Gleichgewicht zu suchen, so sein Gemüt zu pflegen und seinen Handlungswillen zu üben, sein Denken und Wahrnehmen zu schulen.

Eurythmische Erziehung achtet auf folgende Inhalte und Ziele:

– Ausbilden der Phantasie
– Üben der Sinne, besonders des Hörsinnes und des Bewegungssinnes
– Koordination der grobmotorischen und feinmotorischen Bewegungen
– Übungen der Körpergeschicklichkeit
– Rhythmisieren und Harmonisieren der Bewegungen durch Musik und Sprachrhythmen
– Üben des schöpferischen Denkens und der räumlich-zeitlichen Vorstellungen
– Beleben der Gefühlskräfte und Fördern der sozialen Kräfte
– Erleben der anderen Menschen und der Gemeinschaft (Klein 2012, S. 110).

Zur Theorie des Rhythmus

Die naturwissenschaftlich und medizinisch orientierte Rhythmusforschung (Chronobiologie) achtet vor allem auf die Zeitstruktur von Lebensvorgängen. Sie kommt zum Ergebnis, dass überall, wo es um Leben in der Natur geht, Rhythmen auftreten. Die Wissenschaft ist überzeugt, dass man dem Leben der Organismen näherkommt, wenn man sich mit den Rhythmen befasst.

Die Chronobiologie konnte nachweisen, dass alle biologischen Funktionen rhythmisch-periodisch strukturiert verlaufen

Die Dauer einer Periode umfasst ein breites Spektrum von Millisekunden bis zu Jahren. Beim Menschen werden langsame, umweltbezogene Rhythmen (Tag-Nacht-Rhythmus, Wochen-, Monats- und Jahresrhythmus) und schnelle, autonome Rhythmen (Herzrhythmus, Atemrhythmus, Rhythmen im Bereich von Atmung und Puls, von Nervensystem und Sinnesorganen und Rhythmen der Stoffwechselorgane) unterschieden. Die für uns wahrnehmbaren Rhythmen setzen von Geburt an ein und haben eine unverwechselbare individuelle Struktur und Wirkung.

Bekannt ist die prägende Wirkung zeitlich verlässlicher Pflege in der Neugeborenen-Phase oder die Fähigkeit des Kindes beim Schlafen einen eigenen Rhythmus zu entwickeln. Beispielsweise kann von zwei Geschwistern das eine schon sehr bald fähig sein durchzuschlafen und das andere hat diese Fähigkeit auch im 2. oder 3. Lebensjahr noch nicht erlangt. Es handelt sich hier um die Entwicklung ganz elementarer individueller Lebensrhythmen.

Die Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit konnte zeigen, dass bereits bei den ersten reflektorischen und sensomotorischen Aktivitäten des Neugeborenen die rhythmische Struktur eine große Rolle spielt. Aus diesen rhythmischen Gesamtbewegungen bilden sich erste sensomotorische Schemata. Es entwickeln sich weitere Schemata durch eine aktive Organisation früherer Erfahrungen. Aus Greifreflexen werden Greifakte. Die Bewegungen der Hände werden mit dem Sehen koordiniert und es bilden sich in Wechselwirkung mit der Umwelt erste stabile Gewohnheiten aus, die nun erste Nachahmungsaktivitäten ermöglichen. Die sensomotorischen Schemata und ersten Gewohnheiten erweitern sich und Handlungsstrukturen differenzieren sich weiter aus. Neue Handlungsstrukturen gehen lückenlos aus den bereits vorhandenen hervor.

Wir erkennen: Der Rhythmus ist ein spontaner individueller Ausdruck des leiblich-seelisch-geistigen Lebens

Er ist ein im Körperlichen wurzelnder Gestaltungswille, der auf die sich entwickelnden Handlungsstrukturen ordnend einwirkt. „Rhythmik ist aller Bildung Anfang“ (Neuhäuser/Klein 2019, S. 129 ff.; Klein 2012, S. 106).

Von pädagogischem und therapeutischem Interesse ist auch die Erkenntnis, dass beim autonomen Rhythmus verschiedene Qualitätsbereiche unterschieden werden, die beim individuellen Üben, Spielen und Lernen anzusprechen sind. Es wäre gegen die rhythmisch-periodische Struktur des Kindes gehandelt, wollte man es eine Stunde nur kognitiv oder nur sprachlich oder nur bewegungsmäßig ansprechen. Beachtet hingegen die Erzieherin die individuelle rhythmisch-periodische Struktur, dann erweitert und festigt das Kind seine zeitliche Orientierung. Wenn für das Kind bestimmte Ereignisse und Tätigkeiten, Übungen und Spiele zu bestimmten Zeiten wiederkehren, dann kann es feste Gewohnheiten entwickeln, die ihm äußere und innere Sicherheit geben. Untersuchungen konnten bestätigen, dass das Wiederkehren von basalen periodischen Zeitstrukturen die körperlich-seelisch-geistigen Selbstheilungskräfte des Kindes (Menschen) weckt und zur Entfaltung bringt.

Schon allein diese Erkenntnisse der Chronobiologie zeigen die fundamentale Bedeutung des Rhythmischen für das sich entwickelnde Kind. In der Erziehung sollte das rhythmische Prinzip als Sinnprinzip des Lebens, des Übens, Spielens und Lernens geachtet werden. Es strukturiert die Tages-, Wochen-, Monats- und Jahresgestaltung, erleichtert das Lernen und macht die Inhalte zugänglicher. Der Lebensalltag wird in den Rhythmen des Tages, des Monats und des Jahres bewältigbarer. Der Rhythmus gliedert Ereignisse in Zeit und Raum.

Zusammenfassung für die Praxis

Für das Wahrnehmen und Begleiten des Kindes im Alltag der Krippe und des Kindergartens ist bedeutsam, dass der Rhythmus drei wesentliche Eigenschaften hat:

  • Rhythmus ist ein Strukturelement von Verläufen in Zeit und Raum.
  • Rhythmus ist ein multisensorielles Medium, das mit unterschiedlichen Sinnen wahrgenommen wird: hören, bewegen, berühren, sehen.
  • Rhythmus ist ein intersensorielles Medium, das mit unterschiedlichen Sinnen gleichzeitig, d.h. ganzheitlich wahrgenommen wird.

Beim ganzheitlichen Ansprechen verschiedener Sinne üben die einzelnen Sinne eine sich gegenseitig korrigierende und unterstützende Funktion aus (Klein 2012, S. 110). Diese inneren Zusammenhänge hatte wohl auch Rudolf Steiner durch eigene Erfahrungen und Studien intuitiv erkannt.

Literaturhinweise:

  • Glöckler, M. (Hrsg.) (2002): Spirituelle Ethik. Situationsgerechtes, selbstverantwortliches Handeln. Dornach, am Goetheanum
  • Klein, F. (2012): Inklusion von Anfang an. Bewegung, Spiel und Rhythmik in der inklusiven Erziehung. Köln, Bildungsverlag EINS
  • Klein, F. (2018b): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. München, BurckhardtHaus
  • Klein, F. (2019): Inklusive Erziehungs- und Bildungsarbeit in der Kita. Heilpädagogische Grundlagen und Praxishilfen. 3. Auflage. Köln, Bildungsverlag EINS
  • Kobi, E. (2004): Grundfragen der Heilpädagogik. Eine Einführung in heilpädagogisches Denken. 6. Auflage. Berlin, BHP
  • Neuhäuser, G./Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. Gesunde Erziehung in Familie, Kripp, Kita und Grundschule. München, BurckhardtHaus
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