Immer mehr Kinder beziehen ihr Wahrnehmungsrepertoire aus den Medien
Als der große Künstler Leonardo da Vinci vor 500 Jahren sagte: „All unser Wissen gründet sich auf Wahrnehmung. Die Sinne sind die Sachverwalter der Seele“, konnte er nicht ahnen, wie brisant seine Aussage bis heute noch ist. Denn in unserer Informationsgesellschaft erwerben immer weniger Kinder ihr Wahrnehmungsrepertoire aus dem eigenen sinnlichen Erleben. Sie beziehen es zunehmend aus den Medien, die ihnen eine Welt vorgaukeln, in der es passiv zu konsumieren gilt.
Dieses ‚Leben aus zweiter Hand‘ beschert ihnen schon in der Früh schreckliche Monster, die sich mittels Laser in eine neue Galaxie beamen; aggressive Dinos, die laut brüllend jegliches Leben auf der Erde zertrampeln. Unglaublich aber wahr: Bevor ein Kind seine ersten eigenen Erfahrungen mit Gewalt machen konnte, hat es bis zu seinem zwölften Lebensjahr 14.000 Morde im Fernsehen beobachtet! Ein von Fausthieben niedergestreckter Superman rennt im nächsten Moment quietschvergnügt hinter ‚dem Bösen‘ her, um ihm eine Ladung Fußtritte zu verpassen. Keine Angst, auch er steht gleich wieder auf! Diese ‚Steh-auf-Männchen‘ geben keinen sinnlichen Aufschluss darüber, ob ein Schlag weh tut oder gar tödlich sein kann. Gewalt scheint ohne Folgen, ohne Sinnesempfindung und vor allem ohne Leid abzulaufen. Die wilde Jagd rennt einfach am Leben, an der sinnlichen Realität vorbei.
Und mitten in der Fernsehsendung lernt die verführbare Kinderseele das scheinbar sinnliche Begehren kennen: Den neuen Schokoriegel mit der Superkraft oder die weiche ‚Diddel-Maus‘. Kein Wunder, dass Kinder immer häufiger die Wirklichkeit mit den Trugbildern der Medien gleichsetzen. Wer kennt sie nicht, die lila Milka-Kuh, die schon im Kinderhirn spukt, noch lange bevor es eine echte Kuh gesehen hat. Wo lila Kühe brav weiden, wo schöne Menschen glücklich leben, wo Kraftmeier alle Probleme mit Geld und Gewalt lösen, da bleibt wenig Platz für die wahre sinnliche Realität.
Kindern fehlt der Vergleich mit eigenen sinnlichen Erlebnissen
Ein erfahrener Erwachsener hält diese ‚Gaukel-Welt‘ vielleicht aus. Kindern fehlt jedoch der Vergleich mit eigenen sinnlichen Erlebnissen. Und ihre gesunde Sinnesentwicklung leidet unter dem hohen Medienkonsum: Immer mehr Kinder haben Wahrnehmungsprobleme, deren Ursachen in gestörten organischen Funktionen liegen oder in ihren veränderten Lebens- und Umweltbedingungen. Zu den organischen Ursachen zählen Hirnfunktionsstörungen, die während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder in der frühen Kindheit entstanden sind. Aber die meisten Sinnesstörungen sind umweltbedingt. Viele Kinder leiden unter einem Mangel an Entwicklungsreizen in ihrer Umwelt, die ihnen zu wenig Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen bietet. Mit dieser Unterversorgung paart sich meist eine Überversorgung an visuellen und akustischen Reizen. Augen und Ohren sind überstimuliert, während z. B. Tast-, Riech- und Schmecksinn unterversorgt zu verkümmern drohen.
Die Sinne spielen zur ganzheitlichen Entwicklung eine lebenswichtige Rolle
Viele Forschungsarbeiten belegen, dass die Sinne zur ganzheitlichen Entwicklung eine lebenswichtige Rolle spielen. Sie sind hochsensible Schlüssel, mit denen das Kind seiner Umwelt begegnet: Es sieht, hört, schmeckt, riecht, fühlt und ertastet Neues. Auf diesem sensorischen Weg sammelt es wichtige Eindrücke über sich und seine Mitmenschen. Denn nur das Selbsterfahrene – erworben aus dem praktischen Handeln mit ‚richtigen‘ Menschen und mit ‚echten‘ Dingen – schafft neue ‚Denkwerkzeuge‘ zur optimalen Entwicklung. Unsere Sinne funktionieren also wie Schwämme, wie Datenautobahnen, die unzählige Reize und lebenswichtige Informationen zum Hirn transportieren. Und je mehr Sinne am Informationstransport beteiligt sind, umso nachhaltiger und ganzheitlicher speichert das Hirn. Dies birgt für den kindlichen Reifungsprozess ungeheure Chancen aber auch große Gefahren!
Immer mehr Kinder werden heute von der einseitigen Wahrnehmungsflut aus den Medien überrollt
Unvorstellbar aber wahr: Der durchschnittliche Fernsehkonsum von 4- bis 14-Jährigen beträgt in Deutschland täglich vier Stunden! Immer mehr Kinder geraten durch diese einseitige ‚Sinneskost‘ aus dem Gleichgewicht. Sie werden nervös, haben Konzentrations- und Schlafstörungen, entwickeln sich zu kleinen ‚Rambos‘ und ‚Zappelphilippen‘.
Die Kinder leiden unter ‚sensorischen Integrationsdefiziten‘. Selten ist nur ein Wahrnehmungsbereich also ein isoliertes Sinnesorgan funktionsunfähig. Die Kinder stecken vielmehr in einem Leidensgeflecht von kombinierten Ausfällen ihres Sinnessystems. Ihr Gehirn hat die für die Verarbeitung der Sinneseindrücke erforderlichen Strukturen nicht oder unzureichend entwickelt. Sie können nur schwer unter der Vielzahl der Reize die wichtigen von den unwichtigen unterscheiden, die Informationen richtig einordnen und mit Erfahrungen verbinden. Sie schätzen die räumliche, zeitliche Abfolge von Reizen häufig falsch ein. Dies führt zwangsläufig zu Fehlreaktionen, die deutlich machen, dass die Integration der Sinnesreize ins Zentralnervensystem gestört ist.
Und damit gehen immer Entwicklungs- und Lernstörungen einher
Konzentrationsschwäche, schlechte Gedächtnisleistung, hohe Ablenkungs- und Störbereitschaft. All dies löst psychischen Stress aus. Wahrnehmungsgestörte Kinder können sich nur unter großen Anstrengungen situationsgerecht und ausgeglichen in ihre Umgebung einfügen. Sie fallen oft hin, rempeln andere an, lassen ständig Dinge fallen oder stoßen sie um. Dieses ‚Anecken und Auffallen‘ erhöht ihre Unsicherheit und senkt ihre psychische Belastbarkeit. Sie leiden permanent unter der Angst, den Anforderungen nicht gerecht zu werden.
Wenn die eigene sinnliche Erfahrung mit der Umwelt ausbleibt, dann können unsere Kinder nur in den Bildern das Maß aller Dinge suchen. Aber das Greifen, das allem Begreifen unabdingbar vorausgeht, kann nicht durch Medienkonsum ersetzt werden: Der Regenwurm fühlt sich nur in der Hand feucht an und nicht im Fernsehen oder im Computerspiel!
Unsere Kinder brauchen Erwachsene, die sie so oft wie möglich nach Herzenslust im Freien toben und matschen lassen, die ihren Spaß am Entdecken und Erkunden fördern. Denn jedes Kinder brennt darauf, möglichst viele unterschiedliche Dinge seiner Umwelt mit allen Sinnen zu erleben, Erfahrungen mit sich und seinen Spielkameraden zu machen. Es will seine Interessen durch eigenes Entdecken, Erforschen und Untersuchen vertiefen und anderen mitteilen. Aber hierfür braucht es Zeit und Raum.
Suchen Sie daher, liebe Eltern und Erzieher, mit Ihren Kindern das Leben dort auf, wo es sich konkret zeigt: Am Bach und auf der Wiese, auf der Straße und im Supermarkt, beim Bäcker und im Polizeipräsidium. Je häufiger und öfter Ihre Kinder solche Primärerfahrungen machen, desto ganzheitlicher erschließen sie sich die Welt in ihrer sinnlichen Gestalt.
Denn wenn vorbereitete Kunstwelten sich breit machen und reale Erlebniswelten verdrängen, wenn nur noch Bilder ‚sprechen‘ und die persönliche Kommunikation erstarrt, wenn die Technik herrscht und die Sinnlichkeit stirbt, dann ist der ‚Störfall‘ in der kindlichen Entwicklung vorprogrammiert.
Denken Sie immer daran: Kinder können mehr als nur hören und sehen! Sie können Menschen fühlen, Neues ertasten, Dinge schmecken, die Natur riechen und den Sinn der Sinne erfahren d. h. am wahren Leben teilhaben!
Wahrnehmung bedeutet:
- Primärerfahrungen aus der Umwelt sammeln
- Sich und andere bewusst wahrnehmen
- Mit Freude neue Sinnesreize aufnehmen
- Alle Sinne schulen
- Körperkontakt fördern
Charmaine Liebertz
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