Nach der Vorstellung des Gutachtens der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz
Nach der Publikation der IQB-Bildungstrends hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz ihr Gutachten mit Empfehlungen vorgestellt. Etwas erstaunt reagiert der Grundschulverband. Schließlich zeichnen sich die Ergebnisse schon seit dem ersten Bericht vor 10 Jahren ab. Er fordert deshalb nun endlich zu handeln.
In ihrem neuen Gutachten „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule“ empfiehlt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) wichtige Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Grundschule. Zentral sei die Konzentration auf basale Kompetenzen wie zum Beispiel Lesen, Schreiben und Mathematik, damit mehr Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik in der Grundschule erreichen könnten.
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz hat gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz (KMK) ihr Gutachten „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern, Perspektiven für die Grundschule“ vorgestellt. Das Gutachten soll die Diagnose und Förderung grundlegender sprachlicher und mathematischer Kompetenzen als zentrale Herausforderungen in den Mittelpunkt stellen. Darüber hinaus formuliert die Kommission Empfehlungen zu strukturellen und organisatorischen Aspekten des Systems Grundschule.
Erhöhung der Unterrichtsqualität auf Basis evidenzbasierter Konzepte
Im Kern empfiehlt die SWK eine Verbesserung der Unterrichtsqualität. Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und SWK-Mitglied: „Sowohl für den sprachlichen als auch den mathematischen Bereich gibt es wirksame Unterrichtskonzepte. Diese sollten Lehrkräfte systematisch im Unterricht einsetzen, um alle Schülerinnen und Schüler zu motivieren und zu aktivieren. Dazu gehört vor allem das regelmäßige und verstehensorientierte Üben der basalen Kompetenzen im Lesen, Zuhören, Schreiben und Rechnen.“ Die Erhöhung der Unterrichtsqualität setzt zum einen ausreichende Lernzeit voraus: Für das Fach Deutsch sollten 24, für das Fach Mathematik 20 Wochenstunden in den ersten vier Grundschuljahren zur Verfügung stehen. Zum anderen empfiehlt die SWK, den Lernstand der Kinder kontinuierlich zu prüfen, mit mehreren Diagnosezeitpunkten pro Schuljahr.
Qualifizierung des pädagogischen Personals für Diagnose und Förderung
Studien belegen, dass die Qualität des Unterrichts entscheidend von der Lehrkraft abhängt. Daher ist die SWK überzeugt, dass die Professionalisierung von Lehrkräften im Studium, Referendariat und im Beruf ein entscheidender Ansatzpunkt ist, um die Unterrichtsqualität zu verbessern. „Qualifizierungsangebote für Lehrkräfte erfüllen häufig nicht die Kriterien für wirksame Fortbildungen. Die Kommission empfiehlt daher die Entwicklung forschungsbasierter Fortbildungsprogramme für die Diagnose und Förderung basaler Kompetenzen in Deutsch und Mathematik, die flächendeckend implementiert werden“, so Felicitas Thiel.
Verbindliche Diagnose und Förderung schon in der Kita
Wissenschaftliche Erkenntnisse belegen eindeutig den Stellenwert frühkindlicher Bildung. Vor diesem Hintergrund empfiehlt die SWK eine stärkere Verbindlichkeit alltagsintegrierter Bildungsangebote in der Kita sowie die Diagnostik eines möglichen Förderbedarfs bei allen Kindern im Alter von drei bis vier Jahren. „Der SWK ist bewusst, dass der Elementarbereich vor zahlreichen Herausforderungen steht, insbesondere hinsichtlich der Personalausstattung. Dennoch halten wir es für dringend nötig, zu prüfen, ob und in welcher Form Förderangebote zumindest für jene Kinder verpflichtend sein sollten, bei denen ein Bedarf festgestellt wurde. Zudem sollte der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz nach Vollendung des ersten Lebensjahres konsequent umgesetzt werden“, erklärt Michael Becker-Mrotzek.
Mehr Investitionen für Personal und Schulen mit einem hohen Anteil an sozioökonomisch benachteiligten Schülerinnen und Schülern
Insbesondere hinsichtlich des Personals sieht die Kommission einen erhöhten Investitionsbedarf. Schulleitungen benötigen ausreichend Zeit für Leitungsaufgaben. Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte sollten über Kooperationszeit verfügen und für ihre komplexen Aufgaben angemessen besoldet werden. Die SWK empfiehlt zudem eine datenbasierte Unterrichts- und Schulentwicklung. Für die Koordination dieser Aufgaben sind in größeren Grundschulen Funktionsstellen, in kleineren Schulen Entlastungsstunden erforderlich.
Besondere Aufmerksamkeit benötigen aus Sicht der SWK Grundschulen mit einem hohen Anteil an sozioökonomisch benachteiligten Schülerinnen und Schülern. „Es ist wichtig, dass Ressourcen gezielter an den Schulen eingesetzt werden, die sie benötigen. Finanzielle Mittel allein genügen aber nicht. Unterricht und Ganztag müssen auf eine wirksame Förderung basaler Kompetenzen ausgerichtet werden. Dazu ist eine datenbasierte Schulentwicklung erforderlich“, so Felicitas Thiel. Zusätzlich sollten finanzielle Zulagen und weitere Anreize geschaffen werden, um Lehrkräfte und Schulleitungen dauerhaft für die Arbeit an diesen Schulen zu gewinnen.
Die Empfehlungen auf einen Blick
- Stärkere Ausrichtung der Angebote der Aus- und Fortbildung pädagogischer Fachkräfte auf evidenzbasierte Ansätze der Förderung sprachlicher, mathematischer und sozial-emotionaler Kompetenzen
- Stärkere Verbindlichkeit, alltagsintegrierte Bildungsangebote zur Förderung sprachlicher, mathematischer sowie sozial-emotionaler Kompetenzen für alle Kinder zu implementieren
- Implementation einer frühen (im Alter von drei bis vier Jahren) flächendeckenden Diagnostik zur Identifikation eines über die alltagsintegrierte Förderung hinausgehenden zusätzlichen Förderbedarfs und verbindliche Förderung bei identifiziertem Bedarf
- Entwicklung einer Strategie zur Senkung von Zugangsbarrieren zu Angeboten der Familienbildung und zu Kindertageseinrichtungen zur Stärkung der Teilhabe an frühkindlicher Bildung für alle Kinder
- Verankerung elternbildender Maßnahmen der Zusammenarbeit von Kindertageseinrichtungen und Familien in allen Kitas
- Verbindliche Verankerung eines Konzepts zur systematischen Diagnose und Förderung basaler Kompetenzen im Schulprogramm
- Erhöhung der Quantität und Qualität der aktiven Lernzeit für den Erwerb sprachlicher und mathematischer Kompetenzen
- Konsequente Umsetzung und Weiterentwicklung der Gesamtstrategie der KMK zum Bildungsmonitoring
- Bereitstellung von wissenschaftlich fundierten, qualitätsgesicherten diagnostischen Instrumenten und darauf bezogenen Förderinstrumenten
- Verbindliche Verankerung eines Konzepts zur Förderung sozialer Integration und sozial-emotionaler Kompetenzen im Schulprogramm jeder Grundschule
- Etablierung von klaren Verfahren zur systematischen Unterstützung von Lehrkräften
- Entwicklung eines im Schulprogramm verankerten Konzepts für die Zusammenarbeit mit Eltern
- Verankerung des Kooperationsauftrags von Lehrkräften mit weiterem multiprofessionellem Personal im Schulprogramm
- Ländergemeinsame Entwicklung eines kohärenten phasenübergreifenden Kerncurriculums für Lehrkräfte
- Gezielte Gewinnung und Qualifizierung von Fachleiterinnen und -leitern und Mentorinnen und Mentoren in der zweiten Phase
- Implementation forschungsbasierter Fortbildungsprogramme zur diagnosebasierten Förderung der basalen Kompetenzen
- Entwicklung einer angemessenen Aufgabenbeschreibung für (kollegiale) Schulleitungen an Grundschulen
- Entwicklung von Strukturen (Aufgabendifferenzierung) und Gewährung von (zeitlichen) Ressourcen für eine datenbasierte Schulentwicklung
- Aktive Kompensation der Benachteiligungen von Schulen mit einem hohen Anteil sozioökonomisch benachteiligter Schülerinnen und Schüler durch eine indexbasierte Zuweisung zusätzlicher Ressourcen auf allen Ebenen
- Entwicklung von Strategien zur Reduzierung von Segregationstendenzen
Verantwortliches Handeln heißt Handeln JETZT!
Etwas erstaunt reagiert der Grundschulverband auf die Publikation. In seiner Stellungnahme erklärt der Verband: „Die Erkenntnisse des IQB-Bildungstrends 2021 sind nicht neu und keinesfalls überraschend, zeichnen sie sich doch schon seit dem ersten IQB-Bericht 2011 ab. Mit anderen Worten: Die entsprechende Sachlage und der besorgniserregende Blick auf die Situation der Leistungen der Grundschülerinnen und Grundschüler zeichnet sich seit 2011 ab, findet jedoch kaum bis keinen nennenswerten Widerhall in Öffentlichkeit und Politik.“
Die Mehrzahl der Vorschläge der SEK fänden sich in den Konzepten des Grundschulverbands konkretisiert wieder. Nachzulesen in dessen Standpunkten (https://grundschulverband.de/unsere-themen/standpunkte-2/) und Stellungnahmen sowie in der Zeitschrift Grundschule aktuell.
„Wie kann es sein“, fragt der Verband, „dass die vorliegenden Befunde in ihrer Dramatik bislang nicht zu den notwendigen Maßnahmen geführt haben? Und wie lange wird es dauern, bis diese Empfehlungen umgesetzt werden? Was machen wir mit den Kindern, die aktuell die Grundschulen besuchen? Können, wollen, dürfen wir mit den notwendigen Korrekturen im System warten, oder ist nicht eher schnelles und sinnvolles Handeln angesagt?“ Wenn die entsprechenden Konzepte und Ideen tatsächlich vorlägen, bleibe die Frage, warum diese nicht in den Schulen umgesetzt und wirksam würden?
Der Grundschulverband fordert
• Mit Sofortprogrammen muss gewährleistet werden, dass insbesondere Kinder in benachteiligten Situationen nicht abgehängt werden. Entsprechende Maßnahmen sind sofort umzusetzen, damit keine Generation verloren geht. Denn: KINDER LERNEN ZUKUNFT JETZT !
• Daten allein helfen nicht weiter. Es benötigt vor allem den diagnostischen Blick professionell ausgebildeter Lehrkräfte, der durch sinnvolle Diagnoseinstrumente unterstützt wird.
• Inhalte der Lehrkraftbildung in der ersten Phase sind noch deutlicher auf die Bedarfe des Grundschulunterrichts auszurichten.
• Zur entsprechenden Förderung sind die notwendigen personellen Ressourcen bereitzustellen. Diese Förderung muss grundsätzlich innerhalb der Schule stattfinden können.
• Diagnostik und Förderung sind unterrichtsintegriert einzusetzen und alle an Schule einzubeziehen.
• Die sozial-emotionale Situation des Kindes ist zu berücksichtigen. Dazu ist die Zusammenarbeit aller Beteiligten Grundvoraussetzung zur Teilhabe aller Kinder an Bildung. Bildung benötigt Bindung.
• Das große Potenzial für den weiteren qualitativen Ausbau des Ganztagsangebots zu einer guten Bildungs- und Entwicklungsförderung aller Kinder ist mit Blick auf den Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung im Grundschulalter ab 2026 aufzugreifen.
• Es benötigt langfristige Perspektiven, in welcher die Missstände gezielt, systematisch, verlässlich und ohne ständige Neuerungen bearbeitet werden können. Dazu ist Schulfrieden von mindestens einer Dekade unabdingbar.
• Dem Personalmangel an Grundschulen muss systematisch und koordiniert gegengesteuert werden.
• Digitale Unterstützungssysteme sind unverzichtbare Bestandteile des Grundschulunterrichts. Die Ausstattung der Grundschulen in diesem Bereich ist mit Hochdruck fortzuführen, ebenso wie die Qualifizierung der Lehrkräfte in diesem Bereich in allen Phasen der Lehrkraftbildung.
• Die strukturelle Benachteiligung der Grundschulen muss sukzessiv und verlässlich abgebaut werden. Die entsprechenden finanziellen Ressourcen auch zur digitalen Ausstattung der Grundschulen müssen bereitgestellt werden.
Weitere Informationen
Eine Zusammenfassung des Gutachtens können Sie hier herunterladen:
https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/SWK/2022/SWK-2022-Gutachten_Grundschule_Zusammenfassung.pdf
Die Langfassung des Gutachtens ist hier verfügbar:
https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/SWK/2022/SWK-2022-Gutachten_Grundschule.pdf