Eine Studie zeigt: Hunde übernehmen in vielen Haushalten Funktionen, die früher Kindern vorbehalten waren – mit weitreichenden Folgen für unser Zusammenleben
In vielen westlichen Gesellschaften zeichnen sich tiefgreifende Veränderungen ab: Die Geburtenraten sinken, klassische Familienmodelle lösen sich auf, soziale Netzwerke schrumpfen. Gleichzeitig wächst die Zahl der Menschen, die ihr Leben mit einem Hund teilen – oft mit großer emotionaler Nähe und einem tiefen Verantwortungsbewusstsein. Was auf den ersten Blick wie ein Trend erscheinen mag, verweist auf eine gesellschaftliche Umorientierung, die Fürsorge, Bindung und Familie neu denkt.
Die Sozialpsychologin Laura Gillet und die Ethologin Prof. Dr. Enikő Kubinyi von der Eötvös Loránd Universität (ELTE) in Budapest haben in einer umfassenden theoretischen Arbeit untersucht, warum Hunde in westlichen Gesellschaften zunehmend kindähnliche Rollen einnehmen – und was diese Entwicklung über unsere sozialen Bedürfnisse und kulturellen Leitbilder aussagt.
Wenn Fürsorge neue Wege geht
„Wir beobachten, dass Menschen auch ohne eigene Kinder starke elterliche Fürsorgemuster zeigen – und diese auf ihre Hunde übertragen“, schreiben Gillet und Kubinyi. Der Wunsch, sich um ein anderes Lebewesen zu kümmern, bleibe bestehen – auch in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit und gesellschaftlicher Umbrüche.
Die Zahl der Hunde in Deutschland hat sich seit 2000 nahezu verdoppelt: von etwa fünf Millionen auf über zehn Millionen im Jahr 2020. Auch in Österreich stieg der Hundebestand zwischen 2020 und 2022 deutlich, von rund 629.000 auf über 837.000 Tiere. In der Schweiz wuchs die registrierte Hundepopulation von 445.000 im Jahr 2010 auf über 544.000 im Jahr 2022.
Gleichzeitig zeigen die Geburtenzahlen einen klar rückläufigen Trend:
– In Deutschland sank die Geburtenziffer 2024 auf 1,35 Kinder pro Frau. Mit rund 677.000 Geburten und über 1 Million Todesfällen ergibt sich ein negativer Bevölkerungssaldo (Destatis 2025)
– In Österreich lag die Geburtenrate 2022 bei 1,41 Kindern pro Frau – ein Tiefstand laut OECD.
– In der Schweiz wurden 2023 nur noch 80.024 Kinder geboren – über 10 % weniger als noch 2021. Die Fertilitätsrate lag 2022 bei 1,39 Kindern pro Frau.
Dabei geht es nicht darum, Hunde gegen Kinder auszuspielen, sondern gesellschaftliche Tendenzen aufzuzeigen.
Zwischen Kindersatz und bewusster Beziehung
„Viele Menschen sehen ihren Hund nicht als bloßen Begleiter, sondern als vollwertiges Familienmitglied – manche sogar als Kind“, so Gillet. In einer ungarischen Umfrage bezeichneten 70 % der Hundebesitzer ihr Tier als Familienmitglied, 16 % sogar ausdrücklich als Kind. In sozialen Netzwerken finden sich Begriffe wie „Hundemama“ oder „Hunde-Papa“, die inzwischen auch im Einzelhandel und in Marketingkampagnen alltäglich sind.
Doch die Studie macht auch deutlich: Nicht alle Hundebesitzer übertragen die Rolle des Kindes auf ihr Tier. „Die Beziehung zum Hund ist oft komplex, individuell und kulturell geprägt“, schreiben die Autorinnen. Für manche sei der Hund ein Kinderersatz, für andere ein Freund, ein Seelentröster oder schlicht ein Lebenspartner. Gillet betont: „Diese Vielfalt verdient gesellschaftliche Anerkennung – nicht Abwertung.“
Nähe, Verantwortung und gesellschaftliche Folgen
Die emotionale Bindung an Hunde ist stark – das zeigen auch neurowissenschaftliche Untersuchungen. So werden beim Anblick des eigenen Hundes im Gehirn von Müttern ähnliche Areale aktiviert wie beim Anblick des eigenen Kindes (Stoeckel et al., 2014). Umgekehrt reagieren Hunde mit eindeutiger Mimik und Körpersprache auf ihre Bezugspersonen. „Diese Gegenseitigkeit stärkt die emotionale Tiefe der Beziehung“, heißt es in der Studie.
Doch was bedeutet es, wenn sich Fürsorge vermehrt auf Tiere richtet, während die Geburtenzahlen sinken? Gillet und Kubinyi mahnen zur Auseinandersetzung mit den langfristigen Folgen: „Die Hundehaltung als Ausdruck emotionaler Kompetenz darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir vor erheblichen demografischen Herausforderungen stehen.“
Der Rückgang der Geburtenzahlen könne „die Stabilität sozialer Sicherungssysteme, das Rentenniveau sowie die Versorgung in Pflege und Gesundheitswesen gefährden“, so der gesellschaftliche Befund. Auch der Arbeitsmarkt ist betroffen: Weniger Kinder heute bedeuten weniger Erwerbstätige in Zukunft – mit weitreichenden Folgen für Steueraufkommen, Fachkräftesicherung und Innovation.
Die Hundeliebe ernst nehmen – und breiter denken
Gillet und Kubinyi plädieren für eine konstruktive Auseinandersetzung mit der zunehmenden Hundeliebe: „Sie ist Ausdruck eines tiefen menschlichen Bedürfnisses nach Nähe, Beziehung und Verantwortung – kein Zeichen gesellschaftlicher Dysfunktion.“ Es brauche keine Gegenüberstellung von Hund und Kind, sondern eine Politik, die beides ermöglicht: liebevolle Tierhaltung und tragfähige Strukturen für Elternschaft.
„Wir sollten uns fragen, warum so viele Menschen in einem Hund das finden, was sie sich von Familie oder Gesellschaft nicht (mehr) erwarten“, schreiben die Forscherinnen. Die Antwort auf diese Frage liege nicht im Verhalten der Menschen – sondern in den Rahmenbedingungen, die sie umgeben.
Quellen:
– Gillet, L. & Kubinyi, E. (2025). Neudefinition von Elternschaft und Familie – Die kindliche Rolle von Hunden in westlichen Gesellschaften. ELTE Eötvös Loránd Universität. Veröffentlicht bei Hogrefe: hogrefe.com
– Statistisches Bundesamt Deutschland (2025)
– OECD Social Indicators – Österreich (2024)
– Social Change Switzerland (2023)
– [ZZF, Statistik Austria, VHN – Hundebestände D/A/CH]
– Wüest Partner AG – Schweiz 2024