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Das Kind will sich im Spiel die Welt aneignen

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  • Beitrags-Kategorie:KITA / Praxis

Ein Beitrag zur inklusiven Erziehung in Krippe und Kita

Impuls

Phantasie ist wichtiger als Wissen,
denn Wissen ist begrenzt.
Phantasie umkreist die Welt.

(Albert Einstein 1929, zit. n. Zimpel 2019, S. 31)

Diese Erkenntnis des bekanntesten Physikers der Neuzeit, trifft besonders für das Kind zu: Das Kind will von Beginn an seine Phantasie und seinen Forschergeist zusammen mit anderen Menschen entwickeln.

Darauf machen auch Grundgedanken, Befunde und Beobachtungen zum Spiel aufmerksam. In Kooperation mit dem Facharzt für Kinderheilkunde sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie Gerhard Neuhäuser, erkenne ich besonders für die Früh- und Elementarpädagogik:

  • Spiel ist eine ureigene Lebensform.
  • Spiel ist der Wille zum Leben, den jeder Mensch in der tiefe seines Herzens pflegen will.
  • Durch rhythmische und musische Spiele entstehen Resonanzräume, die auch das scheinbar unerreichbare Kind zum gemeinsamen Weiterschreiten einladen.
  • Im Spiel des Kindes und des Erwachsenen tritt eine Willenskraft hervor.
  • Spiel ist Dialog. Das Ich des Einen entwickelt sich am Du des Anderen. So kann in kleinen Lebenseinheiten eine einladende Welt gestaltet werden (Klein 2018, S. 134 ff., Neuhäuser/Klein 2019, S. 152 ff.):
  • Und das Kind baut sich in Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen seinen inneren Bauplan auf, der nach der Reformpädagogin Maria Montessori göttlichen Ursprungs ist (Klein 2019, S. 151).

Im Spiel entwickelt das Kind von Beginn an heilende (ganz-machende) Kräfte

Im vorgeburtlichen Leben ist das Kind noch gänzlich mit seiner Umgebung verwachsen. Daher können traumatisierende Erfahrungen der Mutter während der Schwangerschaft in die Ausbildung des kindlichen Organismus eingreifen. Buchstäblich alles, was die Mutter während dieser Zeit erlebt, wie Stressbelastung, Konflikte mit Partner oder Umfeld, insbesondere auch die existentielle Angst vor möglichem Verlassenwerden, beeinflussen den mütterlichen Stoffwechsel und können im Extremfall mit nachhaltigen Beeinträchtigungen auf das sich entwickelnde Kind wirken.

Nach der Geburt beginnt ein längerer Prozess, in dem das Kind durch phantasiereiches Spiel sein Inneres mit dem Äußeren seiner Umgebung in ein ausgleichendes und harmonisches Verhältnis bringen will. Offenbar liegen im Spiel heilende Kräfte. Das erkannte der Pädagoge und Psychotherapeut Hans Zulliger schon 1952 (Zulliger 2017).

In diesem Wechselspiel entwickelt sich das Kind, sofern es eine „Feinfühligkeit von Eltern und ErzieherInnen“ erlebt (Staatsinstitut für Frühpädagogik 2019), die ihm seine Spielerfahrungen ermöglichen. Hier erlebt es: Ich bin nicht allein! Ich habe Menschen, die bleiben bei mir auch dann, wenn es (noch) keine unmittelbare Lösung des Problems gibt oder zu geben scheint.

In diesem Miteinander von Kind und Bezugsperson(en) bildet sich ein ganz-machender Resonanzraum aus, in dem panische Angst und/oder schwer nachvollziehbare herausfordernde Verhaltensweisen positiv beeinflusst werden. Durch diese wechselseitigen Resonanzerfahrungen erlebt das einst gefährdete Kind und sein(e) Begleiter, dass diese Momente gemeinsam ausgehalten und erfolgreich überstanden werden (Soldner 2019, S. 60 ff.). Ein vertiefter Einblick in die Wissenschaft ist geboten.

Spielforschung hebt den Eigencharakter des Spiels hervor

Forschendes Denken beschreibt das Spiel als „Interaktion mit Objekten und Personen auf verschiedenen Umweltebenen, in deren Verlauf personal-soziale, räumlich-materielle sowie temporale Bestandteile der Umweltebenen eine fiktive Bedeutung erhalten und so zur Spielumwelt transformiert werden“ (Heimlich 2018, S. 80). Heimlich versteht das Spiel als ganzheitliche Tätigkeit, die in die Lebensumwelt eingebettet ist und die Aneignung der Welt ermöglicht. Er weist mit Nachdruck darauf hin, dass Eingriffe in das Spiel des Kindes den Charakter dieser Lebensgrundform zerstören (Heimlich 2019, S. 21 ff.).

Durch Gestaltung der Spiel-Lernprozesse werden allen Kindern neue Teilhabechancen ermöglicht. Das aus den veranlagten Kräften sich entwickelnde Spiel wirkt wie ein „Feuerwerk für die grauen Zellen im Gehirn“ (Hüther/Quarch 2018, S. 15). Spiel ist für alle Kinder wie der Humus, wie der Nährboden für nachhaltige individuelle und inklusive Prozesse in der Krippe, KiTa und Grundschule. Darauf machen besonders der Neurobiologe Gerald Hüther und der Philosoph Christoph Quarch aufmerksam.


Therapeutische Erziehung ist gelebte Inklusion

Ein Arzt und ein Pädagoge berichten gemeinsam von langjährigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Anhand zahlreicher Fallbeispiele wird deutlich, wie Kinder durch therapeutische Erziehung Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit von Beginn an erleben und wie sie von der Entwicklungsunterstützung persönlich profitieren können. 

Prof. Dr. Gerhard Neuhäuser/Prof. Dr. Ferdinand Klein
Therapeutische Erziehung
Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule

Burckhardthaus
Broschur, 168 Seiten
ISBN: 9783963046056
19,95 Euro


Jedes Kind spielt aus seinem Frei-Sein sein Spiel

Beide Forscher, Hüther und Quarch, bestätigen aus biologischer und philosophischer Sicht das bekannte Wort des Dichters Friedrich Schiller, das wir im 15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen finden: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Der Sinn dieser Aussage gewann an Tiefe, als die Hirnforschung entdeckte, dass kleine Kinder über viel mehr neuronale Verschaltungen im Gehirn verfügen als Erwachsene. Diese Erkenntnis zeigt auch, dass kein Kind dem anderen gleicht; nicht einmal eineiige Zwillinge.

Jedes Kind spielt aus seinem Frei-Sein sein eigenes Spiel und baut so seine ganz eigene Welt, sein individuelles Weltbild auf. Grenzt das nicht an ein Wunder, gerade dann, wenn Menschen sich untereinander verstehen, sich letztendlich – auch im Streit – auf bestimmte Tatsachen und Regeln einigen und am Ende diese Unterschiede als Bereicherung erleben und die Würde des Anderen achten lernen? Sie erleben Freiheit in mitmenschlicher Verbundenheit. Diese Weisheit des Dichters und Erkenntnisse der Forscher lehren die beiden Beispiele aus Ungarn (siehe Kapitel: Erfahrungen bei Kindern mit Kommunikationsproblemen).

Freiheit und Verbundenheit zeichnen das Spiel für die inklusive Erziehung aus

Spiel schafft Gelegenheit zum Miteinander-Tätigsein, zur Partizipation. Im Spiel erleben und achten sich die Kinder mit und ohne Behinderung als gleichwertige Partner. Sie versuchen aus der Beziehung heraus mit ihren jeweiligen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse etwas Gemeinsames zu gestalten. Sie spielen miteinander, lernen sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen und können gemeinsam neue Perspektiven entwickeln. Insofern sprechen Hüther und Quarch von „Ko-Kreativität im Spiel“, weil eben aus der sozialen Beziehung das gemeinsame Spielen-Lernen gelingt und etwas Neues entstehen kann (Hüther/Quarch 2018, S. 12).

Wir können festhalten: Das vom Erwachsenen zu verantwortende Spiel ist besonders geeignet inklusive Momente hervorzubringen, die wir als Kern der Inklusion verstehen. Die Kinder erleben, dass der andere Mensch nicht über das gleiche Können und Wissen verfügt, wie sie selbst. Und genau diese Erfahrung ist für phantasiereiche und kreativ-forschende Kinder ein wichtiges Schlüsselerlebnis, bei dem die aufmerksam beobachtende und feinfühlende pädagogische Fachkraft eine entscheidende Rolle spielt (Zimpel 2019, S. 35).

Den „Spielverderbern“ die rote Karte zeigen

Das Kind will in demokratische Spielregeln hineinwachsen

Die beiden Forscher Hüther und Quarch versäumen nicht auf „Spielverderber“, nämlich auf die Vermarktung und Kommerzialisierung des Spiels aufmerksam zu machen, die den Grundcharakter des Spiels, nämlich seine Freiheit und Gebundenheit, zunehmend beeinträchtigen und das Spiel in seinem Eigencharakter gefährden. Hier wird die Lebensgrundform Spiel als Übungsfeld für das Miteinander der vielen unterschiedlichen Menschen und damit der Grundgedanke der Inklusion zerstört, den gerade kleine Kinder überhaupt nicht wollen: Kleine Kinder wollen allein und zusammen mit anderen Kindern im Spiel kreativ und phantasievoll ihre eigene Wirklichkeit, ihr eigenen Denken und Handeln entwickeln (Zimpel 2016).

Im Spiel sieht das Kind Möglichkeitsräume seiner Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit. Es will aus eigener Initiative in demokratische Spielregeln hereinwachsen, auch wenn diese zunächst unüberwindbar erscheinen. Das Spielen als ureigene Lebensform des Kindes hat demokratischen Charakter und überwindet die Herrschaftsform, die Form des machtvollen Regierens und (Be)Herrschens (Klein 2018, S. 60).


Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft

Inklusion ist eine der größten und wichtigsten Herausforderungen, vor denen Pädagoginnen und Pädagogen heute in der Praxis stehen. Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft und so beginnt auch Prof. Dr. Ferdinand Klein bei seinem eigenen Werdegang als Heilpädagoge und beim Kinderarzt und Pädagogen Janusz Korczak, um sich dem Begriff und der Aufgabe des Heil- und Sonderpädagogen zu nähern. Zudem bietet das Buch vielfältige Fallbeispiele, konkrete Tipps und Hilfestellungen zum Umgang mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen, praxisgerecht, leicht verständlich und direkt umsetzbar.

Prof. Dr. Ferdinand Klein
Inklusive Erziehung in der Krippe, Kita und Grundschule
Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks

Burckhardthaus
Broschur, 168 Seiten
ISBN/EAN: 9783963046018
19,95 Euro


Das Kind will durch das Spiel Kontrolle über die äußere Wirklichkeit erlangen, die es ohne Spiel nicht erreicht. Seine Phantasie und Kreativität ermöglicht ihm das Aushandeln des „So-tun-als-Ob, das Vereinbaren des Spielcharakters einer konkreten Handlung“ (Heimlich 2019, S. 21).

Sein Spiel ist intrinsisch motiviert. Es entsteht aus sich selbst heraus, weckt Freude und Sinn, Neugierde, Wissbegierde und Achtsamkeit. Auf diesem Fundament entfalten die Kinder durch ihr freies Spiel (Freispiel) ihre Persönlichkeit im sozialen Miteinander.Das kann die Erziehung nicht vorgeben, nicht diktieren. Doch der Einzelne kann durch sein Beispiel die Kinder auf demokratische Spielregeln aufmerksam machen, ihnen Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit ermöglichen und sie so zu menschengerechten Regeln führen.

Auch Erwachsene brauchen „Zeit zum freien Spiel“

Um diese Grundtatsache des Lebens in der Lebensgrundform Spiel in seinen tieferen Zusammenhängen zu erfahren, brauchen auch Erwachsene Zeit zum Spielen. Sie können beim Begleiten viel falsch machen, wenn sie ohne Hineinversetzen in das einzelne Kind ihre feinfühlende Haltung in die Kinderseele vermissen lassen. Deshalb brauchen sie „Zeit zum freien Spiel“ (Zimpel 2019, S. 36), um sich selbst und das Kind besser zu beobachten und als hilfreiche Vorbilder (Modelle) für die Kinder da-zu-sein und „sich auf das kindliche Erleben einzulassen, die Perspektive des Kindes zu übernehmen und die Welt mit den Augen des Kindes zu betrachten“ (Staatsinstitut für Frühpädagogik 2019, S. 12).

Beispiel: Kinder sind wie ein Spiegel für die pädagogische Fachkraft

Das bringt der Bericht einer 18-jährigen Praktikantin einer inklusiven Einrichtung auf den Punkt, die nach einem Jahr Arbeit erkannte: „Das Praktikum machte mir klar, dass besonders die Kinder, mit denen ich spielte und lernte, wie ein Spiegel für einen selbst sind. Wenn ich mit schlechter Laune zur Arbeit kam, war es schon vorprogrammiert, dass es ein super anstrengender Tag würde. Das spürten die Kinder und es war viel anstrengender als wenn ich mit Spaß und Motivation zur Arbeit kam“. Diese Selbstbeobachtung bestätigte Friedrich Fröbel, Begründer des Kindergartens. Fröbel sagte schlicht und einfach: „Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts“ (Klein 2019, S. 133).

Anregungen für das Beobachten

Durch aufmerksames Beobachten das Spiel wahrnehmen

In ihrem ersten Kinderhaus (Case dei Bambini) im Elendsviertel „San Lorenzo“ in Rom, das am 6. Januar 1907 eröffnet wurde, beobachtet Maria Montessori ein etwa dreijähriges Mädchen, das in einem Zustand tiefer Konzentration die forschenden Spielübungen mit einem Zylinderblock über vierzigmal wiederholte, ohne sich auch nur im Geringsten von seiner Umgebung ablenken zu lassen.

Montessori beschreibt das Phänomen folgendermaßen: „Der Ausdruck des Mädchens zeugte von so intensiver Aufmerksamkeit, dass er für mich eine außerordentliche Offenbarung war. Die Kinder hatten bisher noch nicht eine solche auf einen Gegenstand fixierte Aufmerksamkeit gezeigt. Und da ich von der charakteristischen Unstetigkeit der Aufmerksamkeit des kleinen Kindes überzeugt war, die rastlos von einem Ding zum andern wandert, wurde ich noch empfindlicher für dieses Phänomen. Ich hatte 44 Übungen gezählt; und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung, die es hätten stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf.“ (zit. n. Klein 2019, S. 155)

Montessoris aufmerksame und feinfühlige Beobachtung lehrt: Das Kind versenkt sich mit höchster Konzentration in sein forschendes Spiel bei gleichzeitiger Loslösung von der Umgebung. Diese „Polarisation der Aufmerksamkeit“, die als Montessoriphänomen in die Geschichte einging und der zentrale Begriff der Reformpädagogik ist, kann nicht von außen hergestellt werden, sondern ergibt sich aus der inneren Disposition des Kindes und der Anregung durch den Gegenstand, den sich das Kind durch seine veranlagte Willenskraft aneignen will (Klein 2019, S. 154 f.). Es kommt auf die Qualität des Beobachtens an.

Die Qualität des Beobachtens achten

Bei der Erziehung ist also ein aufmerksames und feinfühliges Beobachten geboten, denn Eingriffe können schnell zum Ende des schöpferischen Gestaltungsprozesses des kleinen Forschers führen. Die beobachteten Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Leistungen und Schwächen, Fehler und Misserfolge in den verschiedenen Situationen sind so einfach wie nur möglich zu beschreiben, im Team immer wieder zu besprechen und kritisch zu hinterfragen, um dadurch Verzerrungen und Einseitigkeiten beim Deuten (Interpretieren, Urteilen) von Spielsituationen zu begegnen. Hilfreich können Videoaufnahmen sein, die gemeinsam analysiert werden.

Ebenso sollten Spielthemen und Spielregeln im Spieltagebuch und in Spielprotokollen über mehrere Wochen oder gar Monate mit Datum und Ort festgehalten werden, um sich dadurch noch besser in die Kinder hineindenken zu können und sich so mit der kindlichen Spielwelt vertrauter zu machen. Auch die einbezogenen Spielmittel und Spielräume sind zu beachten, ebenso die mimischen, gestischen und sprachlichen Äußerungen des individuellen Kindes und der Kinder der Gruppe. All diese Beobachtungen sind in den Teamberatungen zu analysieren (Näheres in Krenz 2020).

Erfahrungen bei Kindern mit Kommunikationsproblemen

Wissenschaftler und Praktiker aus fünf europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Portugal, Schweden und Ungarn) haben gemeinsam drei Jahre in einem Projekt die Bedingungen der frühen inklusiven Erziehung erforscht. Das Team, das durch Erfahrungen in verschiedenen KiTas der fünf Länder seine Erkenntnisse gewann, kommt zu folgendem Ergebnis: Gute pädagogische Arbeit in heterogenen Gruppen ist nichts anderes als allgemein gute pädagogische Arbeit, die bei der Bereitstellung von Spiel- und Lernmöglichkeiten oder bei angeleiteten Aktivitäten die Verschiedenheit der Kinder im Blick hat.

Das Team erkennt:

  • Kindern ist in pädagogisch arrangierten Situationen zu ermöglichen, dass sie individuell auf ihrem Lernniveau, in ihrem Tempo und in ihrem eigenen Stil sich mit der Welt auseinandersetzen. Damit dies gelingt, brauchen einzelne Kinder, insbesondere jene mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen, die feinfühlende Begleitung eines Erwachsenen.
  • Es ist eine wesentliche Aufgabe von Fachkräften in heterogenen Gruppen, Kinder bei der Suche nach Anknüpfungspunkten, bei ihren Beziehungen und Kooperationen zu unterstützen, damit sie eine grundlegende Akzeptanz von Verschiedenheit entwickeln können.
  • Das alles realisiert sich in den alltäglichen Tätigkeiten der Kinder

– beim gemeinsamen freien Spiel,
– beim pädagogisch angeregten Spiel,
– beim Kreisgespräch,
– beim Dialog zwischen den pädagogischen Fachkräften,
– bei Projekten ästhetischer und musischer Bildung,
– bei Festen und Feiern in der Kindergruppe (Krenz/Klein 2012, S. 152 ff.).

Gemeinsame Spielsituationen ermöglichen

Gerade bei rhythmischen Sing- und Bewegungsspielen fühlt sich das Kind mit Kommunikationsproblemen eingeladen mitzumachen. Durch diese Spiele werden Brücken zum unerreichbaren Kind gebaut (Klein 2021, S. 123 ff.)

Beispiel 1

In einem inklusiven Kindergarten in Ungarn schaukeln Kinder auf der Wippe. Sie verlassen diese, wenn Emma mitschaukeln will. Die Erzieherin ermahnt die Kinder nicht, dass sie Emma vom Spiel nicht ausschließen sollen, sondern sie zeigt sich sehr erfreut, nun Emma beim Schaukeln Gesellschaft leisten zu können. Bald sammeln sich einige Kinder um die Erzieherin. Sie wollen mit Emma schaukeln. Hier ist die Erzieherin ein nachahmenswertes Vorbild. Sie zeigt, wie man mit dem Kind zusammen etwas tut und wie sich die Kinder aufeinander einlassen können.

Beispiel 2

Sigrid (fünf Jahre), ein Kind mit Autismus, wurde vor drei Wochen in die Gruppe aufgenommen. Die Kinder warten auf das Mittagessen und versammeln sich auf dem Teppich, während Siegrid ziellos im Raum umhergeht. Die Erzieherin initiiert das Bewegungsspiel „Meine Hände klatschen. Meine Hände tanzen […].“ Sie singt (mal leise, dann laut) und bewegt im Rhythmus (mal langsam, dann schnell) ihre Hände. Die Kinder schauen und beginnen die Bewegungen zu imitieren. Sigrid schaut dem Geschehen zu, bewegt sich aber weiter im Raum und dreht sich um sich selbst. Ab und zu begibt sie sich kurz zu den Kindern und läuft dann wieder weg. Bald beobachtet sie das Bewegungs- und Singspiel der Gruppe und setzt sich auf den Teppich. Zaghaft versucht Sigrid die Bewegungen zu imitieren. Und zum Schluss kann sie die jeweils letzten Worte des Liedes leise mitsingen (Krenz/Klein 2012, S. 182). Dank der feinfühlenden Haltung der Erzieherin werden durch rhythmische Spielübungen Brücken zu dem schier unerreichbaren Kind Sigrid gebaut, auf denen sich Mensch-und-Mensch im Spiel begegnen.

Zusammenfassende Forschungsergebnisse

  • Spiel ist eine eigene ganz ursprüngliche Gestaltungsform des Lebenswillens von Anfang an.
  • Das Kind bildet durch freies Spiel sein Nervensystem, seine Hirnreifung und damit seine geistig-seelisch-körperlichen Entwicklung.
  • Das Kind kann bei diesem Entwicklungsprozess früheste traumatische Erlebnisse freispielen, wandeln und überwinden.
  • Und es lernt die Schwächen des Anderen zu akzeptieren. Darüber hinaus entwickelt es die Bereitschaft die eigenen Schwächen durch die Stärken des Anderen ausgleichen zu lassen.
  • In der frühen Kindheit formt sich jedes Gehirn auf seine ganz persönliche Art und Weise nachhaltig. So entstehen bis ins hohe Alter hinein verschiedene Gehirne, so verschieden wie Schneeflocken. Freies selbstgestaltetes Spiel ist das Gebot der Stunde, um die Volkskrankheit heute, nämlich den Stress durch Überforderung und damit das Burnout-Syndrom oder den Stress durch Unterforderung und damit das Boreout-Syndrom schon von vorherein in die Schranken zu weisen.
  • Die wohl entscheidende Wirkung des Spiels besteht darin, dass Erwachsene und Kinder lernen, andere Menschen und sich selbst besser einzuschätzen und zu verstehen. Hier „durchspielen“ sie ihre eigenen möglichen Entwicklungen.

Fazit für die Spielpraxis

  • Notwendig ist eine feinfühlende spielbegleitende pädagogische Fachkraft, die sich in das Kind soweit wie möglich hineinversetzen und mit ihm wie in einem Resonanzraum kommunizieren und kooperieren kann.
  • Diese Fachkraft ist ein gebildeter Mensch: Sie sieht sich, den anderen Menschen und den ihm umgebenden Lernraum vom Standpunkt des spielenden Kindes und gestaltet Möglichkeitsräume für seine Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit und damit für die Demokratie als Lebensform.
  • Zum Verständnis inklusiver Spielprozesse ist das einfühlende Einlassen des sich bildenden Erwachsenen auf die inklusive Spielwelt des Kindes/der Kinder eine wesentliche Voraussetzung.
  • Dadurch wird auch ein vorschnelles Be- und Verurteilen verhindert und der gebildete Spielgefährte gibt dem Kind den nötigen Halt, die nötige Sicherheit.
  • Im phantasiereichen und kreativ-forschenden Spiel sammeln die Kinder wichtige Erfahrungen. Sie lernen Emotionen wie Freude, Wut, Stolz und auch Enttäuschungen zu inszenieren und zu kontrollieren. Und sie lernen in ihrer ureigenen Lebensgrundform Spiel ihre Welt zusammen mit anderen zu gestalten, loten Grenzen ihres Könnens, ihres Denkens und Fühlens aus. Sie werden selbstbewusster. Dadurch stellen sie grundlegende Weichen für die Gestaltung ihres späteren Lebens.
  • Kinder und Erwachsene lernen ihr Leben wie ein Spiel zu gestalten und erhalten zudem ein Geschenk: Sie lernen im Spielen „viel schneller und leichter“ (Zimpel 2019, S. 35).

Literatur

Heimlich, U. (2018): Einführung in die Spielpädagogik. 3. Auflage. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn.

Heimlich, U. (2019): Spiel als Inklusion – Inklusion als Spiel. In: Zeitschrift behindete.menschen, Heft 6, S. 21-28.

Hüther, G./Quarch, Ch. (2018): Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist. Hanser, München.

Klein, F. (2018): Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule. Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks. München, Burckhardthaus.

Klein, F. (2019): Inklusive Erziehungs- und Bildungsarbeit in der Kita. Heilpädagogische Grundlagen und Praxishilfen. 3. Auflage. Bildungsverlag EINS, Köln.

Klein, F. (2021): Bewegung, Spiel und Rhythmik. Drei unverzichtbare Elemente in der inklusiven Kita-Praxis. Dortmund, modernes lernen.

Krenz, A. (2020): Beobachtung und Entwicklungsdokumentation im Elementarbereich. 2. Auflage. Kulmbach, Fachverlag.

Krenz, A./Klein, F. (2012): Bildung durch Bindung. Frühpädagogik: inklusiv und beziehungsorientiert. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Neuhäuser, G./Klein, F. (2019): Therapeutische Erziehung. Resiliente Erziehung in Familie, Krippe, Kita und Grundschule. München, Burckhardthaus.

Soldner, G. (2019): Trauma bei Menschen mit Assistenzbedarf. In: Jahresbericht Brachenreuthe 2019 (Camphill Schulgemeinschaft Brachenreuthe, 88662 Überlingen), S. 60-62.

Staatsinstitut für Frühpädagogik (2019): Feinfühligkeit von Eltern und ErzieherInnen. Herausgeber BKK Landesverband Bayern, Züricher Str. 25, 81476 München.

Zimpel, A. F. (2016): Lasst unsere Kinder spielen! Der Schlüssel zum Erfolg. 4. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

Zimpel, A. F. (2019): Spiel und Förderung. In: Zeitschrift behindete.menschen, Heft 6, S. 31-36.

Zulliger, H. (2017): Heilende Kräfte im kindlichen Spiel. Das Spiel ist die eigentliche Sprache des Kindes. 8. Auflage. Dietmar Klotz, Magdeburg.

Der Autor

Ferdinand Klein, Prof. Dr. phil. Dr. paed. et Prof. h. c., Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik, arbeitete 20 Jahre als Erzieher, Heilpädagoge und Logotherapeut, lehrte und forschte an sechs Universitäten in Deutschland, Ungarn und der Slowakei im Geiste des polnischen Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak.

Wie sein Lehrer Janusz Korczak lernt der Autor bis heute von Kindern:

  • Das re-agierende Verhalten des Kindes zeigt ihm, wie Erziehung heute noch häufig ist.
  • Das schöpferische Handeln des Kindes lehrt ihn, wie Erziehung sei soll.

Arbeitsschwerpunkte: Ethische Fragen, Forschungsmethoden, Reformpädagogik, Korczakpädagogik, Waldorfpädagogik, Früh- und Elementarpädagogik. Durch Reflexion der aktuellen (heil)pädagogischen, medizinisch-therapeutischen und neurobiologischen Fachliteratur bildet er seinen integralen und transdisziplinären Standpunkt weiter.

Die Gusztáv-Bárczi-Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität Budapest würdigte sein wissenschaftliches Werk und seine Verdienste um den Ost-West-Dialog mit der Verleihung eines „Doctor et Professor honoris causa“. 2019 wurde ihm für sein sozial- und heilpädagogisches Wirken das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

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