Annette Drüner: Kinder bis drei – geborgen und frei. Dialogisch arbeiten in der Frühpädagogik
Um es gleich vorweg zu sagen: Annette Drüner hat eines der besten Bücher im Bereich Frühpädagogik geschrieben, das in den letzten Jahren erschienen ist! Warum? Weil es am Krippenalltag ansetzt. Und dabei sowohl die Erfahrungen der Erzieherinnen, die strukturellen Gegebenheiten der Betreuung und vor allem die Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben der Kinder im Blick hat.
Grundlegend dafür ist das Verständnis von Zeit. Kleine Kinder haben nicht unseren linearen Zeitbegriff, können sich nicht am abstrakten „16 Uhr“ orientieren. Das ist ihnen aus Gründen der Hirnentwicklung gar nicht möglich. Sie daran gewöhnen zu wollen ist also bestenfalls vergebene Mühe – schlimmstenfalls ein brutales Pressen in eine für sie nicht nachvollziehbare Struktur.
„Wann kommt Mama wieder?“ Eine Antwort, die Zweijährige verstehen können, wäre also zum Beispiel „nach dem Mittagsschlaf“ oder „nach dem Snack“. Das ist konkret, an den sich immer wiederholenden Abläufen des Tages orientiert.
Womit schon einige von Drüners Grundprinzipien dargestellt sind: Die Erzieherin wendet sich dem Kind zu. Sie gibt eine Antwort, die seiner Entwicklung und seinen Bedürfnissen gerecht wird. Sie gibt Sicherheit durch die Wiederholung der Tagesstruktur. Sie ist also mit dem Kind im Dialog.
Mit Krippenkindern im Dialog
Dialog? Hä? Mit Kindern, die gerade mal Zweiwortsätze schaffen? Ja, auch. Aber wesentlich ist die Haltung: Das ganze Kind sehen. Seinen Körperausdruck, seine Mimik, seine Bewegung. Darauf antworten wir alle, auch wir Erwachsenen, ständig. Aber meist ist uns das nicht bewusst. Ein zur Seite gedrehter Kopf signalisiert „da ist jemand nicht wirklich interessiert, nicht wirklich für mich da“. Das Kind nimmt das wahr. Wird nach einigen Wiederholungen die Erzieherin nicht als offen für seine Bedürfnisse einschätzen. Was nicht gerade förderlich für die Beziehung ist.
Ein wesentliches Dialoginstrument für die Erzieherin, gerade in Stressmomenten, sind die Hände. Offene Hände, vor dem Körper nach außen gedreht, vermitteln: Ich habe Zeit und Aufmerksamkeit für dich. Ich setze dich nicht unter Druck, fordere nichts von dir. Bin aber da, um dich zu unterstützen.
Ja, das klappt. Sogar beim Anziehen für den Spielplatz. Wenn ein Kind langsamer ist – warum sollten die anderen nicht schneller vor die Tür gehen? Dann kann die Erzieherin sich allein mit dem Kind zur Garderobe bewegen, sich von ihm den Haken zeigen lassen und fragen, womit es anfangen möchte. Mit den Schuhen? Die weitergehende Frage „oder mit der Jacke?“ würde ein Zweijähriges überfordern. Ein Lächeln reicht als Antwort. „Soll ich dir auch mit der Jacke helfen?“ Vielleicht gibt das Kind von sich aus der Erzieherin das Kleidungsstück, oder es nickt. Bei all dem begibt sich die Erzieherin auf „Kinderhöhe“ und hält bei den Fragen die Hände offen vor sich. Sie gibt kein Tempo vor – „los jetzt, die anderen sind schon längst fertig!“ – sondern lässt sich auf den Rhythmus des Kindes ein. Und schafft damit eine wunderbare Lernsituation, in der das Kind nach mehreren Wiederholungen nicht nur die Technik des Anziehens versteht, sondern auch die Beziehung zur Erzieherin festigt und Demokratie lebt.
Demokratie leben in der Krippe
Demokratie? Ja! Denn das bedeutet nicht, im Stuhlkreis die Hand heben, wenn man etwas sagen will. Sondern Teilhabe im Rahmen der eigenen Möglichkeiten. Für die Langsamen und die Schnellen. Für die Jüngeren und die Älteren. Demokratie heißt auch, eigene Entscheidungen treffen und die von anderen respektieren. Genau das hat die Erzieherin in diesem Beispiel getan. Und somit beispielhaft gewirkt. .
Drüner gibt in ihrem Buch sehr viele praktische Beispiele, wie mit und auch für die Kinder der Alltag gestaltet werden kann. Sie macht Mut, sich von eingespielten Ritualen zu befreien, wenn sie nur alle stressen. Ankommen, ausziehen, spielen, essen, anziehen, rausgehen – das ist für viele kleine Kinder zu viel. Muss nicht sein, lässt sich anders machen. Hier sind Ideen und kollegiales Miteinander gefragt. das gilt insbesondere für „heilige Kühe“ wie den Morgenkreis. Warum sollen alle auf Kommando singen und Fingerspiele machen und dabei still auf dem Po sitzen? Wenn sie doch gerade Bewegungsdrang haben? Das lässt sich anders lösen – auch hier gibt sie viele Beispiele, die dem Alltag der Krippe entstammen.
Wesentliche Kapitel von Drüners Buch sind der Bewegung gewidmet, der Einrichtung der Krippe, dem Vorbereiten von Spielsituationen. Wichtig ist dabei immer: Die Kinder beobachten. Wohin geht ihre Aufmerksamkeit, womit sind sie innerlich beschäftigt? Sie plädiert außerdem dafür, Pflegesituationen als Lernsituationen zu begreifen. Denn sie machen etwa 80 Prozent der Tätigkeit der Erzieher und Erzieherinnen aus! Und Kinder lernen viel, wenn die Windel gewechselt und der Po eingecremt wird: Nähe und Berührung zulassen und damit spielen, eigene Entscheidungen treffen und sehen, dass sie respektiert werden, Bewegung auf weichem und festem Boden und Vieles mehr. Drüner streut in allen Kapiteln selbstreflektierende Fragen ein, bietet immer wieder Übungen, um die Einfühlung in die Kinder zu stärken.
Gibt es auch was zu meckern? Ja. Das geht allerdings an den Verlag. Denn leider wird immer stärker an der redaktionellen Durchsicht eines Manuskripts gespart. Und die hätte dieses Buch sicher noch besser gemacht. Denn einige sprachliche Mängel sind schon vorhanden, der innere Aufbau einiger Kapitel ist nicht zwingend und manche Zitate unnötig, unwichtig oder, was manche Untersuchungen und Studien angeht, schlichtweg zu alt.
Zum Schluss muss ich mich allerdings wiederholen: Es ist eines der besten Bücher zur Frühpädagogik, das in den letzten Jahren erschienen ist!
Ralf Ruhl
Bibliographie:
Annette Drüner:
Kinder bis drei – geborgen und frei.
Dialogisch arbeiten in der Frühpädagogik
Vandenhoeck & Ruprecht 2021
160 Seiten
ISBN: 978-3-525-70304-5
15,99 Euro