Die Möglichkeit durch wechselseitiges Berührtwerden ein In-Beziehung-Treten mit dem Kind zu pflegen
Der viel diskutierte deutsche Soziologe und Sozialphilosoph Hartmut Rosa erkennt, dass heute die Sinnressource zunehmend austrocknet und Menschen in eine Sinnkrise führen kann. Erwachsene und Kinder erfahren aber ihr Leben dann als sinnvoll, wenn sie sich mit der Welt und besonders mit anderen Menschen, mit ihrer Arbeit und ihrer Umgebung verbunden fühlen und in diesem Resonanzraum danach handeln. Anders gesagt: wenn sie Resonanz erleben und die Welt zu ihnen spricht.
Rosa wendet sich dem unverfügbaren zwischenmenschlichem Raum zu. Er sieht in dem Begriff Resonanz eine Möglichkeit, zu dem Innenleben des Kindes zu finden, mit ihm ein In-Beziehung-Treten von Ich zu Ich zu pflegen durch wechselseitiges Berührtwerden für ein gutes Leben des Kindes wie des Erwachsenen zu sorgen. Gelingt dies nicht, dann beginnt eine Entfremdung.
Für das Kind wie ein Reflektor wirken
Versuchen wir die Entwicklung eines Kindes auf der Grundlage der mir bekannten Erkenntnisse aus den Humanwissenschaften auf den Punkt zu bringen, dann können wir sagen: Jedes Kind wächst von Beginn an in die sozialen Regeln seiner Mitwelt hinein, lernt diese immer besser zu verstehen und einzuhalten. Ebenso gestaltet es diese aus eigener Initiative mit, sofern seinem Bedürfnis nach Resonanz, nach einfühlender Antwort, nach Anerkennung und Achtung seiner individuellen Entwicklung entsprochen wird. Hier gestaltet es im sozialen Miteinander seine Entwicklung und die Entwicklung seiner Mitwelt mit.
Die Erzieherin hat also dafür zu sorgen, dass sich das Kind nach seinem Bedürfnis an diesem wechselseitigen Geschehen mit beteiligen kann. Sie wird über ihre Erfahrungen nachdenken und sich bemühen, ihre Praxis weiterzuentwickeln und zu verbessern. Sie wird für das Kind, das in der Spiel- und Lernsituation bei einer schwierigen Aufgabe eine Lösung sucht, wie ein Reflektor oder Spiegel wirken und ihm so mit einfühlender Haltung sein ganz persönliches neugieriges, entdeckendes und forschendes Lernen ermöglichen – ohne Überredung, Besserwissen oder gar Zwang.
Dem Kind die Lösung zutrauen
Die Erzieherin traut dem Kind die Lösung des Problems beim Spielen, Lernen und Arbeiten zu. Es kann dann mit seiner Willenskraft seinen Weg finden – auch durch Versuch und Irrtum. In diesem einladenden Raum entwickelt es seine Fantasie und Neugierde. Sein Handlungsspielraum wächst und es kann auch dem Schweren die Stirn bieten.
Die Erzieherin handelt hier so, dass die Möglichkeiten des kindlichen Handelns wachsen, seine Fähigkeiten und Talente sich (aus)bilden und ausformen und es auch die Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann. Hier werden die Handlungen des Kindes nicht festgelegt. Es kann sein Handeln frei entfalten und erweitern.
Disposition zur Resonanz bestimmt die Grundhaltung der Erzieherin
Die Erzieherin geht nicht von einer vorgegebenen abstrakten Theorie aus. Sie entwickelt vielmehr ihr Handeln aus dem wahrgenommenen Bedürfnis des Kindes in der Beziehungssituation. Diese Resonanz kann keiner für sich allein haben. Sie ereignet sich vielmehr im
Zwischenraum: Die Erzieherin schwingt mit dem Kind mit und antwortet so auf sein Resonanzbedürfnis. Ihre Resonanzfähigkeit zeigt sich im einfühlenden Erleben des Kindes und führt zum inneren Reichtum – unabhängig von den äußeren Umständen. Ihre Grundhaltung ist von einer Disposition zur Resonanz bestimmt.
In diesem Buch bringt Ferdinand Klein Rudolf Steiners Gedanken über die Erziehungs- und Bildungspraxis ins Gespräch. Dabei geht es auch um Humanisierung und die Entschulung der Schulen und Kindergärten, um grundlegende Orientierung am sich entwickelnden Kinder in der Lebenswirklichkeit hier und heute. Denn alles Forschen, Lehren, Erziehen und Bilden dient einer Aufgabe: Das (auf)gegebene individuelle Kind auf seinem Entwicklungsweg mit Herz und Tatkraft zu begleiten und zu leiten.
Ferdinand Klein
Waldorfpädagogik in Krippe und Kita
Einblick in eine ganzheitliche Praxis, die jedem Kind seinen individuellen Lebensweg ermöglicht
BurkchardtHaus
ISBN: 9783963046100
208 Seiten, 25 Euro
Resonanzboden zwischen Ich und Welt verbessern
Rosa veranschaulicht die Resonanzphänomene mit dem Bild zweier Stimmgabeln, die sich wechselseitig in Schwingung versetzen. Schlägt man eine Stimmgabel an und hält man eine zweite auf den Körper, dann schwingen beide bei positiven Bedingungen, eben auch die nichtangeschlagene Stimmgabel (Rosa 2016, S. 211 f.). Dies ermöglicht den Resonanzboden zwischen Ich und Welt zu verbessern.
Die Atmosphäre des Wohlwollens und der gegenseitigen Akzeptanz kann niemals einseitig sein, denn Resonanz ereignet sich zwischen dem Ich des Kindes und dem Ich der Erzieherin. Rosa beschreibt diese Beziehungs- und Lernvorgänge mit dem Hören und Antworten: „Hören auf eine Sache und dann antworten in einer Weise, wie es eben nicht in einem Managementbuch oder in einem Kompetenzbuch zu lesen ist, sondern wie es situationsadäquat und interaktionsadäquat sein muss“ (Rosa 2019, S. 19). Dieser Atmosphäre des Wohlwollens begegnen wir im Waldorfkindergarten.
Beispiel: Kochen und Backen (von Gabriele Scholz)
Einmal in der Woche kochen oder backen wir, wobei wieder das sprachlich-rhythmische Begleiten der Tätigkeiten eine große Rolle spielt. Ebenso wichtig ist eine gut vorbereitete Arbeitssituation. Die Kinder sollen durch die vorbereitete Situation in die gewünschte Handlungsweise kommen, das heißt die bereitgelegten Schürzen, die gerichteten Zutaten, die bereitgestellten Gerätschaften sagen in sich aus, um was es geht, wie was getan werden will.
Im Erleben und Tun sinnvoller Handlungsabläufe begründet sich das spätere Erfassen von Ursache und Wirkung, von sinngemäßen Zusammenhängen im Denken. Die gut geplante Vorbereitung und genau bedachte Abfolge tragen in sich die richtige Richtung und sinnvolle Handlung der uns nachahmenden Kinder. Auch die dadurch vorhandene Ruhe der Handlung ist sehr wichtig, um sich jedem Teil des Handlungsablaufs in Liebe und Freude zuwenden zu können.
Wie viel wird da entdeckt, zum Beispiel beim Gemüse waschen und schneiden. Jedes einzelne Rübchen trägt innen einen hellen Stern, Zucchini haben die schönsten Blumenformen, die Röschen des Blumenkohls sind einzeln wie kleine Bäumchen – unendlich ist die Vielfalt und Schönheit der Natur. Die Kinder lieben diese Entdeckungen, besonders die herrlichen Farb-, Form- und Dufterlebnisse. Wie vielfältig sind die Tastqualitäten, wie reichhaltig die Möglichkeit der feinmotorischen Tätigkeiten beim Schneiden der Gemüse oder Wiegen der Kräuter mit dem Wiegemesser. Beim Backen lieben sie besonders die verschiedenen Stadien des Mürb-Hackteigs. Wieder kann man erleben, einerseits wie wichtig die differenzierte Einzelwahrnehmung ist, andererseits der Bezug, den man schaffen kann durch die am Anfang erwähnte Begleitung mit Sprachlich-Musikalischem. Auch kann natürlich nicht jeder gleichzeitig am Teig sein, aber die Gestaltung durch das Backlied beim Kneten oder Rührlied beim Rühren teilt ganz selbstverständlich die Tätigkeit ein: solange ein Lied dauert rührt oder knetet ein Kind. Ist es zu Ende, kommt das nächste dran. Ein hilfreiches sozial wirksames Instrument wird durch diese Handhabung geschaffen.
Wenn das Gemüse geschnitten ist, oder der Teig auf dem Blech liegt, samt den dazugehörigen Äpfeln oder sonstigem Belag, „füttern“ wir unser Feuer im Herd: Zuerst braucht es kleine „Vorspeisen“, das heißt die Kinder suchen die feinen, kleinen Holzstückchen. Später verträgt es auch den „Braten“, das heißt die großen Holzstücke. Und wieder erleben die Kinder herrliche, vielfältige Sinneseindrücke, beim Kochen drinnen am Feuerherd, beim Backen draußen am Backhaus. Unersetzbar scheinen mir diese Erfahrungen zu sein, und ich habe bis jetzt auch noch nie erlebt, dass ein Kind sich am Feuer verbrannt hat. Zu ehrfurchtgebietend ist das lebendig erlebte Feuer – ganz anders als der Elektroherd, an dem sie oft unbewusst am Schalter drehen, ohne wirklich zu erleben, was passiert, weil Tat und Wirkung zu viele Denkprozesse voraussetzen (Scholz 1999).
Literaturverzeichnis:
Rosa H. (2016), Eine Soziologie der Weltbeziehung, 3. Aufl. Berlin, Suhrkamp.
Rosa H. (2019), Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg, Residenzverlag.
Scholz, G. (1999), Der Jahreslauf im Föhrenbühler Kindergarten als Grundlage rhythmischer Gestaltung. In: Zeitschrift lernen konkret. 18. Jg., Heft 1, S. 12 bis 18.
Der Autor:
Prof. Dr. Dr. et Prof h.c. Ferdinand Klein ist Lehrer, Heilpädagoge und Logotherapeut, Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik. Er war 14 Jahre in der heilpädagogischen Praxis tätig, dann an acht Universitäten im In- und Ausland. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Kindheitspädagogik, interkulturelle und inklusive Pädagogik, Forschungsmethoden, Korczakpädagogik und ethische Fragen.