Oder, warum Herzensbildung heute wichtiger ist denn je
Wenn achtjährige Kinder aufeinander einschlagen und hemmungslos auf dem Boden liegende Erstklässler treten, wenn Zehnjährige sich als Bildschirmhelden omnipotent fühlen aber letztendlich einsam sind, wenn Jugendliche ihre Mitschüler erpressen und ihre Lehrer körperlich bedrohen, dann ist die Frage „Was ist los mit der neuen Generation?“ längst überfällig.
Natürlich waren früher Rangeleien unter Kindern auch an der Tagesordnung. Heute jedoch rollt eine Aggressionswelle von bislang einmaligem Ausmaß auf Elternhaus, Kindergarten und Schule zu. Der Direktor des Instituts für kriminologische Sozialforschung an der Uni Hamburg, Prof. Dr. Scheerer, erläutert, dass 34 % der Gewalttaten in Deutschland von Kindern und Jugendlichen begangen werden – also jede dritte Tat – obwohl sie nur 23 % der Bevölkerung ausmachen! Dabei gehen 90 % der Gewaltkriminalität auf das Konto junger Männer; hier gibt es die meisten Täter und Opfer. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die brutalen Helden aus den Medien die jungentypischen Größenphantasien prägen. Der amerikanische Psychologe Daniel Goleman warnt:
„Das Risiko von Gefühlsausbrüchen nimmt zu, weil wir unsere emotionale Intelligenz nicht schulen, während die Angst im Alltag wächst. Wir rechnen an jeder Straßenecke mit Gefahren. Mehr und mehr Leute, vor allem Jugendliche tragen Waffen. Die drücken einfach ab, wenn der Verstand von der Angst überrumpelt wird. Tatsächlich gibt es heute Kinder, die ein neutrales Gesicht nicht von einem feindlichen unterscheiden können. Sie schlagen ein anderes Kind, weil sie dessen Gesichtsausdruck falsch interpretieren.“
Nicht jedes Kind reagiert auf die fortschreitende Vereinsamung, emotionale Kälte und soziale Heimatlosigkeit mit Gewalt. Manche verhalten sich unsicher, wählen den Rückzug nach innen und stehen traurig abseits des Geschehens. Diese Außenseiter sind nur leiser als die Hau-drauf-Kandidaten, aber sie sollten uns nicht weniger Sorgen machen, denn unter ihnen leiden viele an Depressionen, Schlafstörungen und Nervosität.
Mein Freund, der Bildschirm
Viele Kinder wissen heute mehr über ihren Lieblingsdarsteller in einer soap-Sendung als über ihren Klassenkamaraden. Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Peter Struck warnt: „Kinder sind früher mit Menschen aufgewachsen, heute leben sie überwiegend mit Sachen und Bildschirmen, so dass ihre Bilanz nicht stimmt. Viele von ihnen sind in die innere Emigration gegangen, privatisieren stundenlang hinter einer verschlossenen Tür allein mit dem Bildschirm.“ Dort schauen sie wöchentlich bis zu 40 Stunden lang Fernsehen; dabei sehen sie 800 Gewalttaten und 150 Morde! Laut einer UNESCO-Studie hat ein zwölfjähri- ges Kind im Laufe seines Lebens 14.000 Morde im Fernsehen erlebt! Und wenn, wie dieses Jahr geschehen, ein 15-jähriger ostdeutscher Jugendlicher seinen Selbstmord über einen chatroom im Internet verkündet, so ist dies nicht nur ein persönlicher Hilferuf, sondern der einer ganzen Generation, die weniger virtuelle Kommunikation als vielmehr menschliche Begegnung braucht.
Ein Vakuum, das die Industrie gewinnbringend zu nutzen weiß: Vorbei sind die Zeiten der unpersönlichen Handys. Für mehr persönliche Ansprache sorgen Buddys d. h. digitale Wesen, die allerlei sinnvolle Dinge erledigen wie z. B. Zugverbindungen heraussuchen. Die guten Geister verfügen über eine sogenannte emotionale Intelligenz: Sie können lachen, traurig und auch muffelig sein, je nachdem, wie sie behandelt werden. Sie reagieren auf ihre Umgebung mit vielen unterschiedlichen Wesenszuständen – von ausgelassener Freude bis hin zum Wutanfall. Sie lernen ständig hinzu und entwickeln allmählich ihre eigene Persönlichkeit. „Die Wahrscheinlichkeit, dass einer dem anderen gleicht, ist eine Million Mal geringer als die Chance auf eineiige Drillinge“, sagt Andreas Höss, der Vater dieser guten Geister, die er in seiner Firma in Potsdam/ Babelsberg kreierte. Dabei erfüllte er sich den alten Kindheitstraum mit dem Teddy oder der Puppe kommunizieren zu können.
Diesen Traum nach ständigem Gefragt- und Wichtigsein scheinen viele Kinder auch in ihrer SMS-Sucht auszuleben. Für das Jahr 2002 meldete das Wirtschaftsinstitut IW allein in Deutschland 14 Milliarden SMS-Botschaften, wobei die Altersgruppe der 12- bis 25-jährigen überwiegt! In Skandinavien, wo das Handy zur Grundausstattung gehört, ist der SMS-Entzug längst zum Tagesgeschäft vieler Kliniken geworden.
Wie gut sich die Sehnsucht nach Emotionen vermarkten lässt, zeigt die zweite Generation der Tamagotchis aus Tokyo. Jetzt brauchen diese Plastikwesen nicht nur die Aufmerksamkeit ihrer Besitzer, sondern auch die Liebe von Artgenossen, also eines zweiten Tamagotchis. Diese beiden können dann heiraten und virtuellen Nachwuchs in die Welt setzen.
Es gibt Kinder, die in ihrer Kindheit so wenig Zärtlichkeit und Liebe erhalten, dass sie sich von Menschen verraten fühlen. Sie errichten innere Schutzmauern, um nicht mehr enttäuscht, gekränkt und verletzt zu werden. Mit diesem Gefühlspanzer suchen sie die verlockende und scheinbar unkomplizierte Bindung zu ihren Bildschirm-Freunden (Fernseher, Gameboy, Playstation, Computer usw.). Sie verdrängen Isolation und Langeweile, kompensieren Stress und Einsamkeit, verschaffen Erfolg und Kick. Die Psychologin Jirina Prekop8 erläutert, wie schnell Kinder dabei in einen Teufelskreis geraten: „Je mehr sich der Mensch der Realität der Mitmenschlichkeit entzieht, umso mehr sucht er das Scheinbare. Und je mehr er im Scheinbaren seine Scheinidentität sucht, desto mehr entfernt er sich von der Realität der Mitmenschlichkeit.“ Dazu bemerkte Woody Allen treffend: „Das Schlimmste am Fernsehen ist, dass es von der Einsamkeit ablenkt.“
Ob die virtuelle Welt die kindliche Entwicklung gefährdet, ist wie so oft in der Erziehung eine Frage des richtigen Maßes und der Gegengewichte. Der Göttinger Pädagoge Karl Gebauer meint: „Ich denke, dass Jugendliche mit einem guten Selbstbewusstsein keine Gefahr laufen, die Realtität mit der virtuellen Welt zu verwechseln. Nicht das Spiel an sich stellt die Gefahr dar. Sondern erst die doppelte Dosis: Wenn Jugendliche ohne Selbstbe- wusstsein, ohne emotionale Kompetenz und sichere Bindungen Gewaltspiele spielen, dann wird’s gefährlich.“
So – glauben zumindest die Experten – könnte der explosive Cocktail aus virtuellem Gewaltvorbild und realem Minderwertigkeitsgefühl beschaffen sein. Es erstaunt allerdings, dass nach dem Amoklauf an einem Erfurter Gynasium ganz Deutschland ratlos vor dem angeblich Unverständlichen stand, aber bis heute keine Studie in Auftrag gegeben wurde, die danach fragt „Was passiert mit Jugendlichen, die sich vorwiegend in virtuellen Welten aufhalten?“.
Vom Schwinden der Vorbilder
Aber was nutzt das Wehklagen über die Erfurter Tat, reden wir über die Gesellschaft, die wir Erwachsene gestalten und in der unsere Kinder aufwachsen. Denn schließlich geht jedem Amoklauf die emotionale Kälte und der soziale Tod voraus. Schon lange warnen Experten vor dem Laisser- faire-Stil und der „anything goes“-Haltung, die Kindern zu wenig Orientierung und verlässliche Werte bieten. Ein gesellschafticher Konsens herrscht allerdings in den Forderungen an die neue Generation: Leistung, Karriere und Geld! Nicht erst nach der PISA-Studie droht ein neuer Leistungswahn, eine fieberhafte Jagd nach Privilegien, ein selbstverständlicher Narzissmus und eine hysterische Abstiegsangst, die alle Erfolgsprediger um den Schlaf bringt.
Auch wenn’s unangenehm ist, so müssen wir uns bei der Charakterisierung der neuen Kindheit einige Fragen gefallen lassen:
Was leben wir unseren Kindern in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft vor? Sind sie nicht auch Opfer unserer Ellbogengesellschaft, die Skrupellosigkeit, Egoismus und Gefühlskälte nach dem Motto „Das ist dein Problem“ erst salonfähig gemacht hat? Der Maßstab der globalisierten Wirtschaft ist Profit; all ihr Trachten zielt auf Erfolg und Macht. Aber wenn in der freien Wirtschaft der Ellbogen siegt und privat die ausgestreckte Hand erwünscht ist, dann stecken wir im Zwiespalt: Morgens verlassen wir die Wohnung in Raubritterkleidung und abends streifen wir den Bademantel der sanften Eltern über. Mal ehrlich, wie authentisch sind wir da noch in unserer Erzieherrolle? Solange die Wirtschaftskriminalität in Deutschland eine Zuwachsrate von 80 % hat, solange Unternehmen vor lauter Hörigkeit zum globalen Markt ihre kommunale Verantwortung vergessen, solange Politiker Korruptionsgelder als peanuts bezeichnen und dennoch von uns wiedergewählt werden, solange ist es nicht weit her mit unserem moralischen Vorbild.
Kein Wunder, dass unser Kraftfutter gegen soziale Verantwortungslosigkeit und emotionale Kälte eher mager ausfällt. Die meisten verhaltensauffälligen Kinder, alkohol- und drogensüchtigen Jugendlichen haben eines gemeinsam: Ihnen fehlt etwas, was jeder Mensch braucht, um sein Leben ausgeglichen zu meistern: Strategien der Problemlösung. Statt- dessen ersticken die Kids ihre Probleme in Bonbons, Spielsachen und Geldscheinen. Dass sie dabei immer einsamer werden und nach menschlicher Wärme lechzen, dies weiß die Industrie mit ihrem ausgetüftelten Konsumangebot geschickt zu nutzen.
Das Gefühlsangebot der vielen Ein-Eltern-Familien, der doppelbelasteten Alleinerziehenden wirkt dagegen kümmerlich und karg. Aber auch in Zwei-Eltern-Familien regiert oft das Motto „Jeder tut das, worauf er gerade Lust hat“. So sitzen zum Beispiel nach einer Studie der GfK-Fernsehforschung mehr als die Hälfte aller Verheirateten getrennt vor der Röhre. Wenn sich ein Paar schon nicht auf ein Fernsehprogramm einigen kann, wie will es dann seinen Kindern Vorbild für friedliche Konsensfindung sein?
Doch es kommt noch ärger: Die Studie Kinderwelten 2002 offenbarte „Kinder haben keine Eltern mehr!“ Im Auftrag des Kindersenders Super RTL wurden ca. 1.000 Kinder zwischen sechs bis 13 Jahren und jeweils ein Elternteil zu ihrem Verhältnis befragt. Erschreckendes kam zutage: Fast einem Fünftel der Eltern sind ihre Kinder völlig egal! 12 % erwiesen sich als wenig familiär und 34 % stuften ihre Rolle immerhin als Aufpasser oder Behüter ein.
Aber auch die Schule lässt zu wünschen übrig. So stellte das LBS-Kinderbarometer, das alle fünf Jahre die Wünsche und Ängste von Kindern in NRW untersucht, fest, dass 42,5 % der befragten Kinder auf den Schulstress mit Kopf- und Bauchschmerzen reagieren. Eine Studie in über 43 Schulen in Schleswig-Holstein ermittelte, dass jeder zehnte Schüler unter Mobbing leidet. Aber nur jeder dritte Lehrer sei bereit, – obwohl er weiß, dass seine Schüler leiden – mit ihnen darüber zu sprechen! Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Peter Struck mahnt: „Das ist ein Spiegelbild der aktuellen Schulmisere: Zeit ist nur für Unterricht vorgese- hen, aber nicht für die individuelle Not einzelner Schüler und ihrer Familien.“
Wir Erwachsene sollten nicht vergessen, dass wir alle Veranstalter und Regisseure der Neuen Kindheit sind: Wer produziert Gewaltvideos, wer erfindet sprechende Kuscheltiere, wer lässt Kinder stundenlang allein fernsehen, wer lässt Mobbing in Schulklassen zu …?
Auf der Suche nach Identität
Immer mehr Kinder beziehen ihre Identität aus der Interaktion mit den Medien. Fernab vom realen Leben stattet sie die virtuelle Welt mit der ersehnten Omnipotenz aus und schenkt ihnen Beachtung. Per Knopfdruck erwerben sie rasch und mühelos ihre ideale Identität, die ihnen das reale Leben verwehrt. Soziologen sprechen inzwischen von Patchwork-Identitäten, in denen nebeneinander stehende Selbstkonzepte die Lebensentwürfe prägen. Kinder und Jugendliche zappen sich je nach Bedarf und Lebenssituation in verschiedene Rollen und verkleiden ihr Ich. In dieser künstlichen Identität verbringen sie oftmals mehr Zeit als in ihrer realen. Viele Psychologen und Soziologen warnen angesichts der Zunahme an hyperaktiven Kindern, Autisten, verwöhnten und lebensuntüchtigen Egoisten und narzisstischen Singles vor einer globalen Identitätskrise. Der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp beschreibt sie als ein Gefühl des Entbettet-Seins der Personen, als Vielfalt der Lebensformen und individualisierte Sinnsuche, die Heranwachsende vor neue Herausforderungen stellt. Waren sie gestern noch dazu verdammt in einer engen Lebenswelt mit festen Werten und Normen zu leben, so werden sie heute von individuellen Wertesystemen geradezu überrollt. Die Verbindlichkeit ist gewichen und nicht selten tritt an ihre Stelle die Beliebigkeit, die Ambivalenz der postmodernen Identität.
Diesen Text haben wir aus folgendem Buch:
Der Konsens über gesellschaftliche Werte wird immer geringer; allgemein gültige Erziehungsziele sind verpönt und während wir Erwachsene so dahin lavieren, befindet sich die Neue Kindheit längst auf der Suche nach neuen Maßstäben, Aufmerksamkeit und emotionaler Zuwendung. Ein gefundenes Fressen für Rattenfänger, denn: „Jede Sucht beginnt als Sehnsucht in der Kindheit.“
Immer mehr Jugendliche sind süchtig nach dem thrill, dem emotionalen highlight, nach Castings, Shows und Starrummel, in denen sie endlich wahrgenommen werden, so glauben sie zumindest. Die individuelle Sinnsuche erfordert von den Kindern und Jugendlichen ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit, dem sie meist nicht gewachsen sind. In einer Gesellschaft, in der der Wert des Menschen schon im Elternhaus nach der vermeintlichen Leistungsfähigkeit taxiert wird, droht die Seele zu verdursten.
Eines ist gewiss: Die Atmosphäre in Kindergärten ist angespannter denn je. Schnell können Gefühle hochkochen und sich in körperlicher Gewalt entladen. Das individuelle Lustprinzip nimmt Überhand, Anweisungen der Erzieher, die früher schweigend befolgt wurden, müssen heute mit jedem Einzelnen diskutiert werden. Der Satz Ich habe aber keine Lust fordert immer wieder von neuem die Überzeugungskraft der Erzieher heraus.
Unbestreitbar ist aber auch: Noch nie waren Kinder so selbstbewusst, sagten sie so offen ihre Meinung und engagierten sich so vehement für Gerechtigkeit wie heute.
Auch wenn es genügend Anlass gibt, sich um das emotionale Befinden der Neuen Kindheit zu sorgen, so gibt es immerhin Licht am Ende des Tunnels: Die Schüler in NRW sind führend, wenn es um die Mitmenschlichkeit geht. Der Länderbericht der Pisa-Studie15 gibt ihnen die Bestnote für soziales Verhalten. In keinem anderen Bundesland sind die Kinder so sehr bereit, für sich und für ihre Mitmenschen Verantwortung zu übernehmen.
Was Pädagogen beherzigen sollten
- Immer wenn die Werbung Ihnen vorgaukelt „Wenn du dein Kind liebst, dann kauf ihm …!“ dann denken Sie daran, dass Berge von Besitztümern (Spielzeug, Handy, Computer usw.) kein Kind auf Dauer im tiefsten Innern seiner Seele glücklich machen. Wenn Sie mal das schlechte Gewissen plagt, dass Sie zu wenig für das Kind da sind, dann hilft kein großer Kaufrausch sondern nur ihre Präsenz als liebevolles und verständnisvolles Wesen.
- Denken Sie daran, im Unterricht spielt der Stoff zwar eine wichtige Rolle aber nicht immer die wichtigste! Schließlich stehen der objektiven Wissensvermittlung die berechtigten subjektiven Bedürfnisse der Schüler gegenüber.
- Im Wettkampf mit den virtuellen Erziehungsagenten wie Fernsehen, Computer, Tablet oder Smartphone müssen wir Pädagogen mehr denn je den Respekt vor der Würde des Menschen, die Fähigkeit zur Empathie und die persönliche Begegnung fördern. Wir können uns nicht länger hinter den Strategien der Wissensvermittlung verschanzen und in Sachen Herzensbildung ein ungenügend abliefern, während die Kinder orientierungslos nach starken Vorbildern suchen.