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Emotionen verstehen: Wie Kinder lernen, Gefühle einzuordnen

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Mit dem Alter steigt die Bedeutung von konzeptuellem Wissen, während die reine Wahrnehmung an Einfluss verliert

Wie entwickeln Kinder die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu verstehen? Diese zentrale Frage beantwortet eine aktuelle Studie des Forschungsteams um Shuran Huang, Seth D. Pollak (University of Wisconsin–Madison) und Wanze Xie (Peking University), veröffentlicht im Fachjournal Nature Communications (Band 16, Artikelnummer 6838, 2025). Im Fokus der umfangreichen Untersuchung stehen zwei grundlegende Prozesse: die spontane Wahrnehmung von Gesichtsausdrücken und das konzeptuelle Wissen über Emotionen. Die Ergebnisse zeigen: Bereits Kinder im Vorschulalter können Gesichtsausdrücke differenziert erkennen – doch mit zunehmendem Alter wird das Verständnis anderer Menschen immer stärker durch erlerntes Wissen geprägt.

Die Studie belegt, dass sich das Emotionsverständnis von einer rein wahrnehmungsbasierten Analyse hin zu einer komplexeren, kontextsensiblen Deutung auf Basis von Erfahrungswissen verschiebt. Der Einfluss der bloßen Wahrnehmung nimmt im Laufe der Kindheit messbar ab, während die Rolle des konzeptuellen Wissens – etwa über kulturelle Bedeutungen von Emotionen – wächst. Die Ergebnisse haben direkte Implikationen für Bildungs- und Erziehungsprozesse und stützen aktuelle emotionstheoretische Ansätze, die auf das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Sprache und sozialen Erfahrungen setzen.

Drei Studien – ein entwicklungspsychologischer Gesamtblick

Die Forschenden führten drei eng miteinander verknüpfte Studien mit derselben Kinderkohorte im Alter von fünf bis zehn Jahren durch. Ziel war es, die Entwicklung des Emotionsverständnisses aus verschiedenen Perspektiven systematisch zu analysieren:

  1. Studie 1 untersuchte mithilfe eines EEG-Frequenzmarkierungsverfahrens (Fast Periodic Visual Stimulation, FPVS), wie spontan und differenziert Kinder Gesichtsausdrücke unterscheiden.
  2. Studie 2 erfasste das konzeptuelle Wissen über Emotionen mit einer Bewertungsaufgabe, bei der Kinder Assoziationen zwischen emotionalen Begriffen und Gefühlskategorien herstellten.
  3. Studie 3 testete das konkrete Emotionsverständnis über zwei Verhaltensaufgaben – eine Sortieraufgabe und eine Zuordnungsaufgabe.

Durch eine Repräsentative Ähnlichkeitsanalyse (RSA) wurde anschließend untersucht, inwiefern die neuronalen und konzeptuellen Prozesse das emotionale Urteilsvermögen der Kinder vorhersagen – unter Berücksichtigung ihres Alters.

Wahrnehmungsfähigkeit ist früh vorhanden – verliert aber an Bedeutung

Die EEG-Daten aus Studie 1 zeigen: Kinder im Alter von fünf bis sechs Jahren verfügen bereits über eine stabile Fähigkeit, zwischen verschiedenen stereotypen Gesichtsausdrücken zu unterscheiden – auch innerhalb negativer Emotionen wie Angst, Traurigkeit und Wut. Diese Fähigkeit bleibt über das gesamte Kindesalter hinweg bestehen. Die Oddball-Reaktionen im EEG waren dabei in allen Altersgruppen nachweisbar, insbesondere für Unterschiede zwischen positiven und negativen Emotionen. Eine zusätzliche Kontrollgruppe zeigte, dass diese Reaktionen tatsächlich auf die Verarbeitung der Gesichtskonfigurationen und nicht auf einzelne Merkmale zurückzuführen sind.

Doch obwohl die Fähigkeit zur Unterscheidung früh vorhanden ist, nimmt ihr Beitrag zur Emotionsbeurteilung mit zunehmendem Alter ab. Die RSA-Modelle belegten, dass insbesondere jüngere Kinder sich bei der Einschätzung emotionaler Zustände stärker auf wahrnehmungsbasierte Hinweise verlassen – dieser Einfluss schwindet jedoch im Grundschulalter deutlich.

Konzeptuelles Wissen wird zum zentralen Faktor

In Studie 2 wurde sichtbar, dass das konzeptuelle Wissen über Emotionen im Alter zwischen fünf und zehn Jahren deutlich differenzierter wird. Kinder lernten, die Ähnlichkeit und Unterschiede zwischen emotionalen Konzepten besser zu erfassen. Während jüngere Kinder noch starke konzeptuelle Überschneidungen zwischen Glück und negativen Emotionen zeigten, konnten ältere Kinder diese klarer voneinander abgrenzen. Gleichzeitig entwickelten sie ein differenzierteres Verständnis dafür, wie ähnlich sich beispielsweise Wut und Angst in bestimmten Kontexten sein können.

Diese Entwicklung wurde mithilfe von Korrelationen zwischen Emotionspaaren und einer multidimensionalen Skalierungsanalyse belegt. Die zunehmende Differenzierung deutet darauf hin, dass Kinder mit wachsendem Alter nicht nur über mehr emotionales Wissen verfügen, sondern auch über eine strukturiertere emotionale Kategorisierung, die über einfache Valenz-Urteile hinausgeht.

Verhaltensexperimente bestätigen den Entwicklungsverlauf

Die Verhaltensaufgaben in Studie 3 bestätigten die Ergebnisse der EEG- und Wissensmessungen. Jüngere Kinder konnten Emotionen zwar unterscheiden, verwechselten jedoch häufig einzelne negative Ausdrücke. Erst mit zunehmendem Alter wurden ihre Urteile präziser. Besonders auffällig: In der Zuordnungsaufgabe stieg der Einfluss des konzeptuellen Wissens mit dem Alter signifikant an. Bei der Sortieraufgabe zeigte sich hingegen, dass Wahrnehmungsunterscheidung vor allem bei jüngeren Kindern eine Rolle spielte.

Die Kombination beider Aufgaben legt nahe, dass emotionale Beurteilung keine einheitliche kognitive Leistung ist, sondern durch verschiedene Teilprozesse getragen wird. Je nach Aufgabe und Kontext werden dabei unterschiedliche Strategien aktiviert – entweder eher wahrnehmungsbasiert oder wissensbasiert.

Emotionale Intelligenz ist beeinflussbar

Die Ergebnisse dieser Forschungsreihe liefern wichtige Erkenntnisse für die Entwicklungspsychologie, Emotionsforschung und Bildungspraxis. Sie zeigen, dass sich das Verständnis von Emotionen bei Kindern nicht nur durch sensorische Erfahrung, sondern in hohem Maße durch begriffliches Lernen, sprachliche Einbettung und kulturelle Prägung entwickelt. Die emotionale Kompetenz ist damit nicht nur biologisch verankert, sondern stark durch Umwelt und Erziehung beeinflussbar.

Für Eltern, pädagogische Fachkräfte und Bildungsinstitutionen bedeutet dies: Die Förderung emotionaler Kompetenzen sollte sich nicht ausschließlich auf die Erkennung von Mimik oder Körpersprache konzentrieren, sondern auch gezielt das Verständnis für emotionale Konzepte, deren sprachliche Bezeichnungen und deren soziale Kontexte einbeziehen.

Quelle:

Huang, S., Pollak, S. D. & Xie, W. (2025). Developmental shift from perceptual to conceptual processes in children’s emotion understanding. Nature Communications, 16, Artikelnummer: 6838.
https://www.nature.com/articles/s41467-025-62210-1

Universitäten:

  • Department of Psychology, Peking University, China
  • Department of Psychology, University of Wisconsin–Madison, USA

Gernot Körner

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