Repräsentative Untersuchung macht Ausmaß, Kontexte und Folgen von Missbrauch sichtbar – Dunkelfeld weiterhin groß
Laut einer aktuellen Dunkelfeldstudie, initiiert vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, berichten 12,7 Prozent der befragten Erwachsenen, in ihrer Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Das entspricht etwa 5,7 Millionen Menschen in Deutschland.
Besonders betroffen sind weibliche Befragte: 20,6 Prozent gaben an, in jungen Jahren sexualisierte Gewalt erlebt zu haben – bei den 18- bis 29-Jährigen liegt der Anteil sogar bei 27,4 Prozent.
„Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen hat“, sagt Prof. Dr. Harald Dreßing, Leiter der Forensischen Psychiatrie am ZI und Koordinator der Studie.
Tatorte: oft das Zuhause – Täter meist männlich
Die Studie zeigt: Sexualisierte Gewalt geschieht am häufigsten im familiären Umfeld oder durch nahestehende Bezugspersonen. Zwar erleben auch Jungen Gewalt, bei ihnen häufen sich aber Kontexte wie Sport- und Freizeiteinrichtungen, kirchliche Räume oder Angebote der Kinder- und Jugendhilfe.
Ein weiteres zentrales Ergebnis betrifft die Täterstruktur: In der großen Mehrheit der Fälle waren die Täter männlich. Nur 4,5 Prozent der Betroffenen berichteten von Übergriffen durch Frauen.
Digitale Medien als neuer Risikobereich
Die Studie weist auch auf die wachsende Bedeutung digitaler Räume hin: In 31,7 Prozent der Fälle spielten soziale Netzwerke, Chats oder Messenger-Dienste eine Rolle. Dabei ging es unter anderem um das ungewollte Zusenden pornografischer Inhalte, gezielte Kontaktaufnahme oder den Druck, intime Bilder oder Videos zu verschicken.
Besorgniserregend: Über 60 Prozent derjenigen, die im realen Leben betroffen waren, erlebten auch digital sexualisierte Gewalt.
Scham, Angst und Schweigen – viele sprechen nicht darüber
Ein weiteres bedrückendes Ergebnis: 37,4 Prozent der Betroffenen haben nie mit einer anderen Person über das Erlebte gesprochen.
Häufigste Gründe: Scham, Schuldgefühle und Angst, nicht ernst genommen zu werden. „Das zeigt, dass es vielfach an geschützten Räumen fehlt, in denen Menschen das Erlebte offen ansprechen können“, so Prof. Dreßing.
Wissenschaftlich belastbare Daten zum ersten Mal
Die Studie wurde in Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm, dem Kriminologischen Institut Heidelberg und dem Umfrageinstitut infratest dimap durchgeführt. Erstmals wurde damit eine für Deutschland repräsentative Erhebung zum tatsächlichen Ausmaß und den Kontexten sexualisierter Gewalt realisiert.
„Es ist wichtig, dass wir die Forschung zum Ausmaß und den Kontexten sexualisierter Gewalt verstetigen“, betont Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des ZI. „Nur so können wir Prävention und Versorgung verbessern.“
Originalpublikation:
Harald Dreßing, Andreas Hoell, Leonie Scharmann, Anja M. Simon, Ann-Christin Haag, Dieter Dölling, Andreas Meyer-Lindenberg, Joerg Fegert: Sexual Violence Against Children and Adolescents: A German Nationwide Representative Survey on Its Prevalence, Situational Context, and Consequences. Dtsch Arztebl Int 2025; 122: 285–91. DOI: 10.3238/arztebl.m2025.0076
Link: https://www.aerzteblatt.de/10.3238/arztebl.m2025.0076