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Trotz Arbeit auf Sozialleistungen angewiesen

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Alleinerziehende und große Familien besonders betroffen

Viele Menschen in Deutschland sind trotz Arbeit auf Sozialleistungen angewiesen: Mehr als jeder fünfte Leistungsbeziehende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II geht im Jahr 2021 einer Erwerbstätigkeit nach (22 Prozent). Insgesamt belief sich die Zahl dieser sogenannten Aufstocker in Deutschland im Juni dieses Jahres auf rund 860.000 Menschen. Das zeigt eine aktuelle Auswertung, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vorgenommen hat.

Alleinerziehende besonders betroffen

Wie aus einer Langzeitanalyse für die Jahre 2010 bis 2018 hervorgeht, waren fast ein Drittel aller Leistungsbeziehenden, die in einer Familie mit Kindern leben, in diesem Zeitraum erwerbstätig. Und das, obwohl sie aufgrund der Anrechnungsregeln im SGB II nur einen kleinen Teil ihres Einkommens behalten und kein Vermögen ansparen können.

Besonders betroffen sind alleinerziehende Familien. Unter allen Haushaltsformen weisen sie das höchste Risiko auf, ihr Arbeitseinkommen aufstocken zu müssen: Mehr als jeder sechste erwerbstätige Alleinerziehende bezieht zusätzlich SGB II-Leistungen.

„Alleinerziehende haben eine hohe Motivation, erwerbstätig zu sein. Doch für sie ist es besonders schwer, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Es ist erschreckend, dass ein so hoher Anteil der Alleinerziehenden trotz Arbeit auf Transferleistungen angewiesen ist, um das Existenzminimum für sich und ihre Kinder zu sichern“, sagt Anette Stein, Director Bildung bei der Bertelsmann Stiftung.

Über drei Viertel erhalten Niedriglohn

Ob aufgestockt wird oder nicht, hängt maßgeblich von der Erwerbssituation ab: Je geringer die Arbeitszeit und je niedriger der Stundenlohn ausfallen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, zusätzlich SGB II-Leistungen beziehen zu müssen. Von allen Aufstockern üben fast die Hälfte (46 Prozent) eine geringfügige Beschäftigung aus und über drei Viertel erhalten einen Niedriglohn.

Bei Alleinerziehenden wirkt sich das besonders stark aus. Das Aufstocker-Risiko steigt bei ihnen erheblich, wenn sie einer Beschäftigung mit geringem Verdienst oder nur in Teilzeit nachgehen. Aufgrund der oftmals alleinigen Fürsorgeverantwortung für ihre Kinder bleibt ihnen aber häufig keine andere Wahl.

Kinder erhöhen das Aufstocker-Risiko

Die Analyse belegt: Haushalte mit Kindern, egal ob alleinerziehend oder als Paar, haben gegenüber kinderlosen Paaren und Alleinstehenden eine höhere Wahrscheinlichkeit, trotz Arbeit SGB II-Leistungen beziehen zu müssen. Dazu kommt es insbesondere dann, wenn Kinder unter zwölf Jahren im Haushalt leben. „Jüngere Kinder benötigen zumeist mehr Zeit und Fürsorge. Doch vielfach fehlen Betreuungsstrukturen oder -angebote, die es Eltern und ins- besondere Alleinerziehenden ermöglichen würden, einen Beruf in Vollzeit oder auch, wie in der Schichtarbeit, zu bestimmten Zeiten auszuüben“, erläutert Anette Stein.

Erst im Juli wies die Bertelsmann Stiftung in einer Studie nach, dass Alleinerziehende trotz häufiger Erwerbstätigkeit sehr stark von Einkommensarmut bedroht sind.

Weniger Aufstocker während der Pandemie

Im Zuge der Corona-Pandemie ist der Anteil der Aufstocker zurückgegangen, 2019 lag er noch bei über 26 Prozent. Als zentralen Grund dafür sehen die Expertinnen von IAB und Bertelsmann Stiftung den Wegfall Tausender Jobs in bestimmten Dienstleistungsbereichen, wie etwa dem Gastgewerbe, in denen viele Aufstocker beschäftigt sind. Dies betrifft auch die aufstockenden Alleinerziehenden, deren Zahl sich ebenfalls verringert hat. „Zudem ist die Vereinbarkeit von Arbeit und Kinderbetreuung infolge der Corona-Auswirkungen zu einem noch größeren Problem für Alleinerziehende geworden. Daher ist davon auszugehen, dass viele von ihnen zugunsten der Care-Arbeit den Job aufgeben und komplett in den SGB II-Bezug wechseln mussten“, erklärt Anette Stein.

Teilhabegeld einführen, Minijobs reformieren, Kinderbetreuung aufwerten

Für alle Familien ließe sich die Situation durch eine Kindergrundsicherung verbessern, wie sie von der neuen Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Für die konkrete Ausgestaltung empfiehlt die Bertelsmann Stiftung die Einführung eines Teilhabegeldes, das finanzielle Leistungen für Kinder bündelt, einfach zu beantragen ist und mit dem Einkommen der Eltern abgeschmolzen wird. Dadurch ließe sich Kinderarmut wirksam vermeiden. Aufgrund des hohen Aufstocker-Risikos für geringfügig Beschäftigte stellt eine Reform der Minijobs einen weiteren Ansatzpunkt dar. Deren Vorteile hatte die Bertelsmann Stiftung in einer Mitte des Jahres veröffentlichten Modellrechnung aufgezeigt. Die nun von der Ampel-Koalition anvisierte Anhebung der Minijob-Grenze auf 520 Euro hingegen wird die Minijob-Falle für Frauen und Mütter und damit das Aufstocker-Risiko eher verschärfen.

„Armutsfalle“ Familie

Dass gerade bei Alleinerziehenden, aber auch bei Paarfamilien mit Kindern, geringere Arbeitszeiten häufig mit einem höheren Aufstocker-Risiko einhergehen, wirft zudem die Frage nach der Wertschätzung von Kinderbetreuung auf. „Es darf nicht sein, dass Eltern noch immer vor dem Dilemma stehen, entweder zu wenig Zeit für ihre Kinder zu haben oder finanziell in Armut abzurutschen. Die Bedeutung und Notwendigkeit von Care-Arbeit sollten gesellschaftlich endlich stärker anerkannt werden. Das muss sich auch in Leistungen für Kinder niederschlagen, wie etwa dem von uns vorgeschlagenen Teilhabegeld“, sagt Anette Stein.

Zusatzinformationen

Die Auswertungen stützen sich hauptsächlich auf das Panel „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS), in dessen Rahmen seit 2006/07 jährlich ca. 12.000 Personen ab 15 Jahren in 8.000 Haushalten zu ihrer materiellen und sozialen Lage befragt werden. Neben seinem Längsschnittcharakter zeichnet sich das Haushaltspanel dadurch aus, dass es sowohl eine hohe Fallzahl von ca. 5.000 SGB II-Haushalten umfasst als auch repräsentativ für die Wohnbevölkerung in Deutschland ist. Für die Längsschnittanalyse wurden die Wellen 2010 bis 2019 (aktuell auswertbare Welle) verwendet. Weitere Datenquelle ist die Statistik der Bundesagentur für Arbeit (aktuell verfügbare Daten von 2020 bzw. Juni 2021).

Quelle: Bertelsmann Stiftung

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