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Auch Sehen will gelernt sein

Eine Gießener Citizen-Science-Studie zeigt: Erst junge Erwachsene sehen die Welt mit „erfahrenem“ Blick – zuvor bleibt der Blick noch lange in Bewegung

Wenn Erwachsene eine Alltagsszene betrachten, schweifen ihre Augen zielgerichtet über das Bild: Gesichter, Schrift, wichtige Details – der Blick folgt einer Art innerem Plan. Dass dieser Plan nicht angeboren ist, zeigt nun eine Studie der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU): Erst im jungen Erwachsenenalter ist unser Blickverhalten so weit „ausgereift“, dass es dem typischen Erwachsenenblick entspricht. Kinder und Jugendliche sehen die Welt anders – und ihre Augen bewegen sich dabei anders.

„Wir waren überrascht, wie lange diese Entwicklung dauert“, sagt Dr. Marcel Linka, Erstautor der Studie. Rund zwei Jahrzehnte braucht es demnach, bis sich der Blick stabilisiert. Und: Je älter die Teilnehmenden, desto ähnlicher wurden sich ihre Blickmuster – während Kinder ein und dasselbe Bild auf teils völlig unterschiedliche Weise betrachteten.

Sehen ist Erfahrungssache

Was genau verändert sich im Lauf der Jahre? Jüngere Kinder richten ihre Augen häufiger auf Hände oder berührte Objekte, übersehen dafür aber oft Texte oder Gesichter. Auch die Blickrichtung verändert sich: Während Erwachsene oft horizontal über eine Szene wandern, schweifen Kinderblicke weniger regelmäßig.

„Unsere Wahrnehmung wird durch Erfahrung geformt“, erklärt Linka. Wer mit Büchern, Bildschirmen und Verkehrsschildern aufwächst, entwickelt mit der Zeit ein Gespür für typische Szenen – und lernt, wo die wichtigen Informationen wahrscheinlich stehen. Prof. Dr. Ben de Haas ergänzt: „Wir vermuten, dass Erwachsene im Kopf mentale Landkarten typischer Situationen entwickeln. Diese helfen, schnell und gezielt zu schauen.“

Millionen Augenblicke aus dem Mathematikum

Möglich wurde diese Erkenntnis durch eine außergewöhnliche Citizen-Science-Kooperation: Im Mitmach-Museum Mathematikum in Gießen war über ein Jahr hinweg eine Eye-Tracking-Station installiert. Über 6.700 Besucherinnen und Besucher – im Alter von fünf bis 72 Jahren – spendeten ihre Blickdaten für die Forschung. Die Station „Millionen Augenblicke“ zeichnete Millionen von Blickbewegungen beim Betrachten von 40 Alltagsszenen auf.

Die Studie wurde im Fachjournal „Nature Human Behaviour“ veröffentlicht und ist Teil des Exzellenzclusters „TAM – The Adaptive Mind“, in dem die JLU universelle Prinzipien der Anpassung und Wahrnehmung erforscht.

Und was heißt das für die Praxis?

Das Gießener Forschungsteam will nun untersuchen, wie kulturelle Prägungen das Sehen beeinflussen – und ob sich aus den Blickmustern Rückschlüsse auf Lernprozesse oder besondere Wahrnehmungsvoraussetzungen ziehen lassen. Für die Bildung könnte das bedeuten: Kinder sehen anders, weil sie noch lernen, wie man sieht. Und dieses Lernen braucht Zeit – und die passende Unterstützung.

Weitere Informationen:


Exzellenzcluster TAM: theadaptivemind.de
Master-Studiengang „Mind, Brain and Behavior“: Studienangebot JLU
Originalpublikation: Nature Human Behaviour (2025)

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