Große Metaanalyse warnt vor wechselseitigem Zusammenhang – besonders beim Gaming und bei fehlender Alltagsstruktur
Digitale Medien gehören für Kinder heute selbstverständlich zum Alltag. Doch wie wirken sich Bildschirmzeiten auf die emotionale und soziale Entwicklung aus? Eine aktuelle Metaanalyse, eben im Psychological Bulletin (Sanders et al., 2024) veröffentlicht, bietet fundierte und differenzierte Antworten – mit wichtigen Implikationen für die pädagogische Praxis.
Die Untersuchung wurde unter Leitung von Dr. Michael Noetel von der University of Queensland durchgeführt und analysiert Daten aus 117 Längsschnittstudien mit rund 292.000 Kindern weltweit im Alter bis zu zehn Jahren. Es handelt sich um eine der bisher umfassendsten Studien zu diesem Thema.
Wechselseitiger Zusammenhang: Bildschirmzeit und sozioemotionale Entwicklung
Die Analyse zeigt: Kinder, die sehr viel Zeit mit digitalen Medien verbringen, zeigen häufiger Auffälligkeiten im Sozialverhalten und im emotionalen Erleben – etwa Rückzug, Gereiztheit oder impulsives Verhalten. Umgekehrt neigen Kinder, die bereits mit sozial-emotionalen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, dazu, sich verstärkt digitalen Medien zuzuwenden – oft als Strategie zur Ablenkung oder Stressbewältigung.
„Wir fanden heraus, dass erhöhte Bildschirmzeit zu emotionalen und Verhaltensproblemen führen kann – und umgekehrt neigen Kinder mit solchen Problemen dazu, vermehrt Bildschirmangebote zu nutzen“, so Studienleiter Dr. Michael Noetel.
Besonders stark waren diese Zusammenhänge im Bereich des Gamings. Spiele fungieren häufig nicht nur als Zeitvertreib, sondern auch als emotionales Ventil. Daraus ergibt sich für pädagogische Fachkräfte ein besonderer Beobachtungsauftrag: In welchem Kontext und mit welcher Funktion nutzen Kinder digitale Spiele?
Wie viel ist „zu viel“?
Die Studie selbst setzt keine festen Grenzwerte, doch im Abgleich mit internationalen Empfehlungen (z. B. WHO, American Academy of Pediatrics) lässt sich sagen:
- Für Kinder von drei bis unter sechs Jahren gilt: nicht mehr als eine Stunde Bildschirmzeit täglich, immer begleitet von einer Bezugsperson.
- Für Grundschulkinder sind ein bis zwei Stunden täglich in Ordnung – sofern genügend Zeit für Schlaf, Bewegung und soziale Aktivitäten bleibt.
Übermäßige Nutzung beginnt dort, wo diese Schutzfaktoren systematisch verdrängt werden – etwa wenn Kinder schlechter schlafen, seltener draußen spielen oder soziale Kontakte durch Medienkonsum ersetzt werden. Besonders riskant ist exzessives Gaming, das nicht selten mehr als drei Stunden täglich in Anspruch nimmt und dabei kaum pädagogisch begleitet wird.
„Kinder, die mit emotionalen oder sozialen Problemen ringen, nutzen Bildschirme oft zur Flucht oder zur Bewältigung – aber das kann sie in einen Kreislauf führen, der ihre Entwicklung zusätzlich belastet“, warnt Roberta Vasconcellos von der Australian Catholic University, Co-Autorin der Studie.
Kleine Effekte – große Wirkung
Obwohl die Effektstärken im Durchschnitt gering bis moderat sind, weisen die Forschenden darauf hin, dass sich solche Einflüsse über Jahre hinweg kumulativ auswirken können. Gerade im pädagogischen Alltag, wo Prozesse über längere Zeiträume begleitet werden, ist diese Erkenntnis zentral (vgl. Funder & Ozer, 2019).
Nicht nur die Dauer zählt
Die Studie betont, dass es bei Bildschirmzeit nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität und Kontext geht. Wenn Kinder altersgerechte, lehrreiche Inhalte konsumieren und gleichzeitig ausreichend Schlaf, Bewegung und soziale Bindungen erleben, sind negative Auswirkungen unwahrscheinlich. Kritisch wird es, wenn Medienkonsum zur Hauptstrategie im Umgang mit Emotionen wird – etwa bei Stress, Frustration oder Langeweile.
„Unsere Ergebnisse sprechen nicht gegen Bildschirmnutzung per se – sondern für Richtlinien, die auch auf Inhalte und soziale Einbettung achten“, so das Fazit der Autorengruppe.
Altersunterschiede: Ein Desiderat
Die Metaanalyse differenziert nicht explizit nach Altersgruppen – ein Umstand, den Fachkräfte im Alltag selbstständig mitdenken müssen. Denn es ist offenkundig: Ein fünfjähriges Kind nutzt Medien anders als ein Zehnjähriger – in Funktion, Umfang und Wirkung. Altersdifferenzierte Forschung wäre wünschenswert, um die medienpädagogische Arbeit gezielter ausrichten zu können.
Kinder unter drei Jahren haben dagegen grundsätzlich nichts vor einem Bildschirm zu suchen. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen das seitens vieler Pädagog*innen, Träger und der Bildungsindustrie nur teilweise anerkannt wird – was zu nachhaltigen Schäden bei Kindern führen kann.
Gernot Körner
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