Pädiater und Organisationen warnen vor Folgen für „Risikokinder“:
Wenn derzeit von Risikogruppen die Rede ist, denken die meisten an alte oder chronisch kranke ältere Menschen. Dass offenbar weit über zehn Millionen chronisch kranke Kinder- und Jugendliche fast ebenso betroffen sind, ist in der öffentlichen Diskussion kein Thema. Dabei ist gerade diese Gruppe besonders stark gefährdet.
Kontakte sind nur schwer zu begrenzen
Kitas und Schulen sollen möglichst bald wieder öffnen. In den Einrichtungen oder durch Erwerbsarbeit haben Kinder und deren Familien typischerweise eine Vielzahl von Außenkontakten, die nur schwer zu begrenzen sind. Allein durch den Schulweg, der oftmals mit öffentlichen Verkehrsmitteln stattfindet, ist ein Mindestabstand kaum möglich. Kindergartenkindern sind Hygieneregeln und Mindestabstand nur schwer vermittelbar. In diesen Situationen sind chronische kranke Kinder stark gefährdet.
Darauf weisen das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler, Mukoviszidose e.V., Deutsche Kinderkrebsstiftung, Kindernetzwerk und Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. in einer gemeinsamen Pressemitteilung hin. Selbstverständlich stehe weiterhin der Schutz der älteren Menschen im Vordergrund der Anstrengungen von Bund und Ländern, heißt es hier. Pädiater und Patientenorganisationen beobachteten jedoch mit Sorge, dass in den vergangenen Monaten der Corona-Krise die Situation der chronisch kranken Kinder, Jugendlichen und deren Familien in der öffentlichen Diskussion nur unzureichend berücksichtigt werde.
„Furcht vor Infektionen groß“
„Bei Familien mit chronisch kranken Kindern ist die Furcht vor einer Coronavirus-Infektion und einer Gefährdung durch schwere Komplikationen oder gar Tod besonders groß. Nach elf Monaten Pandemie bleiben viele Fragen zum Schutz dieser Kinder und ihrer Familien offen und damit verbundene psychosoziale und sozialrechtliche Aspekte seitens der Politik ungeklärt. Diese Menschen fühlen sich in ihrer Situation allein gelassen“, betont Kai Rüenbrink, Sprecher des Aktionsbündnisses Angeborene Herzfehler (ABAHF).
Potenziell betreffe dies in Deutschland rund elf Prozent aller Mädchen und 16 Prozent aller Jungen unter 17 Jahren, wie das Robert-Koch-Institut (RKI) in KiGGS 2017, der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland gezeigt habe. Hierzu zählen unter anderem Kinder und Jugendliche mit neurologischen und onkologischen Krankheiten oder auch solche mit Herzfehlern.
Kaum Aussicht auf Impfung
Ob und wann diese Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren ebenfalls eine Impfung erhalten ist bisher nicht geklärt. „Diese Gruppe von rund 13,5 Mio. Menschen scheint vergessen, denn in der Kommunikation der Regierung über die Impfversorgung Deutschlands kommen sie bislang kaum vor. Da derzeit keine Zulassung der Impfstoffe für Kinder in Sicht ist, könnte die Pandemie für vorerkrankte Kinder noch sehr lange dauern!“, so die Verbände. Forschung und Zulassungsstudien für kindgerechte COVID-19-Impfstoffe müssten daher dringend vorangetrieben werden. Solange keine Impfungen für Kinder zur Verfügung stehen, bleibe zum Schutz gefährdeter Kinder nur die breite Impfung der Eltern und Betreuungspersonen.
Ärztliche Bescheinigungen oft nicht anerkannt
Eine vergleichbare Regelung gibt es bereits für die Kontaktpersonen von Schwangeren. Hier sei eine Anpassung der aktuellen Corona-Impfverordnung entsprechend der Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) unumgänglich. Denn auch ärztliche Bescheinigungen würden derzeit in den Impfzentren nicht immer anerkannt. „Impfstoffe, die bereits ab dem Alter von 16 Jahren zugelassen sind, sollten sofort an alle Jugendlichen ab 16 mit schweren chronischen Erkrankungen verimpft werden“, fordert Dr. med. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ). „Wenn Kinder und Jugendliche, gerade chronisch kranke, nicht geimpft werden, ist ihre Teilhabe auf allen gesellschaftlichen Ebenen und auf nicht absehbare Zeit massiv beeinträchtigt.“
Weitere Maßnahmen
Bis alle Kinder durch eine flächendeckende Impfoption ausreichend geschützt sind, bedürfe es unterstützender Maßnahmen für die betroffenen Familien. Um das zu erreichen, fordern die Verbände folgendes:
Die Eltern müssen frei von Zwängen gemeinsam mit ihren behandelnden Ärzten den Weg ihrer Familien durch die Pandemie definieren – zwischen konsequentem Infektionsschutz mit allen psychosozialen Folgen und dem Risiko einer COVID-19-Infektion.
Verbindliche Vorgaben seitens der Kultusministerkonferenz (KMK) zur sicheren Teilhabe chronisch kranker Kinder und gegebenenfalls auch deren Geschwistern am Schulunterricht (Präsenz und online) sind umzusetzen. Dazu zählen die Ausweitung raumluftverbessernder Maßnahmen Stoßlüften, Spuckschutz und eventuell Luftfilteranlagen), Versorgung mit für Kinder geeigneten Schutzmasken, Öffnung der Coronavirus-Schutzmasken-Verordnung für Einzelfallentscheidungen und eine klare Regelung zur Online-Beschulung.
Um Existenzängste in Zeiten der Pandemie zu verringern, bedarf es einer Neuregelung von Schutzpaketen für berufstätige Eltern chronisch kranker Kinder, die auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf abzielen. Der Zugang zu existenzsichernden Leistungen muss erleichtert werden.
Ferner ist auch auf die Lebensqualität der jungen Menschen aus Risikogruppen hinzuweisen. Um eine risikoarme Teilhabe für Menschen mit Vorerkrankungen zu ermöglichen, ist die sozialverträgliche Verfügbarkeit von für den Laien sicher handhabbaren Schnelltests für Kontaktpersonen unerlässlich. Deren Zulassung muss schnellstmöglich auf den Weg gebracht werden.